Ahrens & HilleRechtsanwälte
RAe Ahrens & Hille • Reinhäuser Landstr. 16 • 37083 GöttingenLandgericht Göttingen Berliner Str. 837073 Göttingen
Jürgen AhrensFachanwalt für StrafrechtOliver HilleFachanwalt für StrafrechtNina JüttnerRechtsanwälte
Reinhäuser Landstraße 1637083 Göttingen
Tel: (0551) 70 71 50Fax: (0551) 70 71 51 5Email: RAe.Ahrens@t-online.deWEB: www.rechtsanwaelte-ahrens.de
Sparkasse GöttingenBLZ 260 500 01KTO 432 067 88UstNr.: 20/235/75006
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Betr.: Strafsache Tivay I Bd. 2 Unser Aktenzeichen: 05-200122Sachbearbeiter(in): Rechtsanwalt Oliver Hille/AH
Göttingen, 02.06.2005
In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 Ls -
wird zu der mit Schriftsatz vom 31.03.2005 gegen das am 29.3.05 verkündete und am 2.5.05 zugestellte Urteil eingelegten
R e v i s i o n
die nachfolgende
R e v i s i o n s b e g r ü n d u n g
abgegeben mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Göttingen zurückzuverweisen.
Gerügt wird die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Das Urteil kann keinen Bestand haben, da das Gericht neben formellen Rechtsfehlern in der prozessualen Situation " Aussage gegen Aussage " die Vorgaben der höhergerichtlichen Rechtsprechung, dass der Tatrichter alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen beziehungsweise eine lückenlose Gesamtwürdigung aller Indizien vorgenommen hat, dadurch missachtet, dass es sämtliche in der Hauptverhandlung festgestellte Tatsachen trotz teilweiser Wahrunterstellung im Ergebnis als bedeutungslos behandelt und im Rahmen der ansonsten freien Beweiswürdigung schließlich in nicht nachvollziehbar Weise die Verurteilung auf eine bezüglich der Tätereigenschaft des Angeklagten völlig isolierte, durch nicht einen einzigen Umstand des übrigen Tatgeschehens bestätigte Aussage der Nebenklägerin gründet.
I. Verfahrensrügen
1. Gerügt wird die Verletzung der § 246 Absatz 2 i.V.m. § 265 Absatz 4 StPO.
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung hat in der Hauptverhandlung am 15.3.2005 den nachfolgenden Aussetzungsantrag gestellt, welcher als Anlage 1 zum Hauptverhandlungsprotokoll vom 15.03.2005 (Bl. 5 d. Protokollbandes) genommen wurde:
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Sparkasse Göttingen BLZ: 260 500 01 KTO: 432 067 88UstNr.: 20/235/75006Göttingen, 15.03.2005
In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 2 Qs 124/04 -
—wird beantragt,
die Hauptverhandlung gemäß § 246 Absatz 2 StPO und §265 Absatz 4 StPO auszusetzen.
Begründung:Der Unterzeichner ist bei der Vorbereitung der Berufungsverhandlung noch einmal auf den Vermerk der Sachbearbeiterin der Polizeiinspektion Göttingen vom 4.11. 2003 (Blatt 39 der Akte) aufmerksam geworden. Dort heißt es in Bezug auf das vorliegende Verfahren: "In der Nacht vom 13./14.8.03 (Mittwoch/Donnerstag), gegen 4:45 Uhr, kam es auf dem Campus Gelände/" Blauer Turm " zu einer versuchten Vergewaltigung. Der Täter fuhr auf einem Fahrrad einige Minuten neben der ebenfalls radfahrenden Geschädigten her. Dann brachte er sie zu Fall, würgte sie und versuchte, sie in unmittelbarer Nähe sexuell zu missbrauchen.... Der Vorgang wurde unter der Tagebuchnummer 2003005210; sexuelle Nötigung, versuchte Vergewaltigung zum Nachteil Julia Kapinus bearbeitet."
Des Weiteren wird in dem benannten Vermerk ein weiterer, anderer Vorfall wie folgt dargestellt: "In der Nacht vom 20./ 21.8. 2003 (Mittwoch/Donnerstag), zwischen 4:30 Uhr und 5:00 Uhr, kam es " Am Geismartor ", Grünstreifen zwischen der Volksbank und dem angrenzenden Parkplatz zu einer weiteren sexuellen Nötigung. Ein radelnder Mann näherte sich einer Radfahrerin. Er drängte sie vom Rad und zog sie in ein Gebüsch. Dort würgte er sein Opfer und nahm sexuelle Handlungen an ihm vor.... Die Anzeige wurde unter der Tagebuchnummer 20035346; sexuelle Nötigung, versuchte Vergewaltigung zum Nachteil Nadine Müller weitergeführt.... Ein wiedererkennen eines Täters von der betroffenen zu Fall Nummer 2 ist fraglich."
Zusammenfassend stellt die Sachbearbeiterin, Frau Fülle, zu den beiden Vorgängen fest: "Ob es sich bei den oben angegebenen Sachverhalten um denselben Täter handelt kann mit letzter Sicherheit zur Zeit nicht gesagt werden. An Hand der Übereinstimmungen im Modus operandi dürfte ein Tatzusammenhang jedoch wahrscheinlich sein."
Beide Vorgänge wurden an die Staatsanwaltschaft Göttingen abgegeben.In der Ermittlungsakte zu der vorliegenden Angelegenheit - Straftat zum Nachteil Kapinus - werden die Ermittlungsergebnisse der anderen Sache - Straftat zum Nachteil Müller – in der Folgezeit nicht weiter erwähnt. Angesichts des "wahrscheinlichen Tatzusammenhangs" in der Ausgangslage konnte aus dem Umstand, dass das zweite Verfahren - zum Nachteil Müller - keinerlei weitere Erwähnung fand, geschlussfolgert werden, dass die Ermittlungen in der Sache „Müller“ ohne Bedeutung für das vorliegende Verfahren blieben.
Rein vorsorglich hatte der Unterzeichner unter dem 3.3.05 die Akte bei der Staatsanwaltschaft Göttingen unter dem ermittelten Aktenzeichen 45 JS 4195/04 angefordert. Die Ermittlungsakte wurde dem Unterzeichner am 10.3.05 übersandt. Der Unterzeichner konnte dabei feststellen, dass die Angelegenheit nicht gegen " unbekannt ", sondern gegen den Angeklagten Tivay geführt wird.
Bei Akteneinsicht musste der Unterzeichner zudem feststellen, dass die Ermittlungsergebnisse in der Angelegenheit " Müller " für das vorliegende Verfahren von unverzichtbarer Bedeutung sind.
Es wird daher ausdrücklich beantragt,
die Ermittlungsakte 45 JS 4195/04 – Ermittlungsverfahren gegen Maziar Tivay wegen Verdacht der sexuellen Nötigung – beizuziehen und das Hauptverfahren – wie eingangs beantragt – auszusetzen.
Wie von der sachbearbeitenden Polizeibeamtin Fülle vermerkt, stimmen die Tatabläufe der beiden Verfahren überein. In beiden Fällen ist die Tatzeit in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag im Zeitraum zwischen 4:30 Uhr und 5:00 Uhr. Beide Zeuginnen - die im vorliegenden Fall betroffene Frau Kapinus als auch die in der anderen Angelegenheit betroffene Frau Müller - berichteten übereinstimmend, dass sie nach einem Diskothekenbesuch mit dem Fahrrad nach Hause fahren wollten. In beiden Fällen hatte sich ihnen ein unbekannter Radfahrer genähert und war zunächst neben ihnen her gefahren. Die Zeugin Kapinus berichtet, dass der Täter in gebrochenem Deutsch "Zusammen nach Hause? " gefragt hätte. Die betroffene Frau Müller hat in ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben, dass der Täter " nicht gut " Deutsch gesprochen und " irgendwas von nach zu Hause gehen " geredet habe. Im weiteren Verlauf wurden beide Zeuginnen durch den Täter so behindert bzw. abgedrängt, dass sie mit dem Fahrrad anhalten mussten. Beide Zeuginnen wurden nach dem Anhalten vom Täter festgehalten und in eine dunkle Ecke gedrängt. In beiden Fällen hat der Täter seine Opfer gewürgt und ihnen den Mund zugehalten.Nach hiesiger Ansicht ist der Tatablauf als im wesentlichen identisch zu werten.Nachdem die Zeugin Kapinus im vorliegenden Verfahren die Behauptung aufgestellt hatte , im Angeklagten den Täter wiederzuerkennen wurde mit der in der parallelen Sache betroffenen Frau Nadine Müller eine Wahllichtbildvorlage durchgeführt, bei der der Zeugin auch ein Bild des Angeklagten zur Auswahl zur Verfügung stand. Gegenüber der Polizeibeamtin Fülle erklärte die betroffene Nadine Müller am 13.11.03 (Blatt 36 der Akte 45 JS 4195/04): " Nach eingehender Betrachtung erkenne ich eine dem Täter ähnlich sehende Person auf Bild Nr. 4 (Maziar Tivay). Von den abgebildeten Personen ist der Mann auf Bild Nr. 4 dem Täter am ähnlichsten. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine vage Angabe zum Tätertyp. Er ist mit Sicherheit nicht der Täter. ".
Die Ermittlungen in der Sache " Nadine Müller " belegen, dass Frau Müller auf identische Art und Weise von einem Täter angegriffen wurde, der dem Täter in der vorliegenden Angelegenheit zwar ähnlich sieht, aber mit Sicherheit nicht der ist, den die Zeugin Kapinus in ihrer Angelegenheit als Täter erkannt haben will.
Die Einsichtnahme in diese Akte ist aus Sicht der Verteidigung im Hinblick auf den Aufklärungsgrundsatz unerlässlich. Eine vollumfängliche Befragung u. a. der Zeugin Kapinus, der Polizeibeamtin Fülle und des Staatsanwalts Buick ist ohne Kenntnis der benannten Akte nicht möglich. Die Kammer wird nicht umhin kommen, die zweifelsohne bedeutsamen Ermittlungsergebnisse zur Vorbereitung der anstehenden Berufungsverhandlung zu prüfen und deren Bedeutung für das vorliegende Verfahren und dessen Durchführung zu bedenken. Die Verteidigung muss sich ihrerseits auf die angesichts dieser weitreichenden neuen Informationen veränderte Verfahrenslage einstellen. Dazu ist eine Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß §246 Absatz 2 StPO in dieser Sachlage gerechtfertigt und erforderlich
Der Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung ist zudem begründet durch den Umstand, dass die Ermittlungsbehörden diese wesentlichen Tatsachen nicht selbstständig in das Verfahren eingebracht haben, sondern dies erst kurz vor der Berufungsverhandlung durch die Verteidigung erfolgte. Es ist - auch bei vorsichtiger Wortwahl - als rechtsstaatlich bedenklich zu werten, dass die Staatsanwaltschaft Göttingen dem Gericht erster Instanz diese Ermittlungsakte nicht zur Kenntnis gegeben hat und dies auch in der Folgezeit im Rahmen des Haftbeschwerdeverfahrens in Kenntnis der wesentlichen Bedeutung des Akteninhalts unterlassen hat. Dies gilt umso mehr, als dass von Seiten der Staatsanwaltschaft ein Zusammenhang mit dem Angeklagten Tivay noch bejaht wurde, nachdem die Zeugin Nadine Müller den Angeklagten eindeutig als Täter ausgeschlossen hat. Während die Wahllichtbildvorlage mit Frau Nadine Müller mit dem benannten Ergebnis bereits am 13.11.03 bereits durchgeführt worden war, wurde der Angeklagte am 6.2.04 - also ca. 3 Monate danach - als Beschuldigter in dem bis dahin gegen unbekannt geführten Ermittlungsverfahren eingetragen. Obwohl der Angeklagte also auch in jenem Verfahren als Beschuldigter geführt wurde erhielt er unter Umgehung der strafprozessualen Grundrechte aus Art. 6 EMRK weder Kenntnis von diesen Verfahren noch wurde ihm als Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Nur so konnte erreicht werden, dass sowohl der Angeklagte als auch das Gericht erster Instanz von den Ergebnissen der Ermittlungen in der Sache " Nadine Müller " keinerlei Kenntnis erhalten konnten.
Aus Sicht der Verteidigung stellt sich auch für die von der Zeugin Kapinus behauptete sichere Wiedererkennung und deren gerichtliche Überprüfung durch die Kammer eine veränderte Sachlage dar, so dass die Aussetzung des Verfahrens auch gemäß § 265 Absatz 4 StPO begründet ist.
Aus den genannten Gründen ist – und zwar unabhängig von der Entscheidung der Kammer über den gestellten Aussetzungsantrag – der Haftbefehl vom 05.10.2004 des Amtsgerichtes Göttingen aufzuheben.
Dies wird im Namen des Mandanten mit diesem Antrag ausdrücklich beantragt, hilfsweise wird beantragt,
den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen.
Oliver HilleRechtsanwalt
Die Kammer hat den Antrag der Verteidigung auf Aussetzung des Verfahrens - und den damit verbundenen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls - durch den nachfolgenden Beschluss, welcher als Anlage 2 zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen wurde, zurückgewiesen:
4 Ns 636/04
Beschluss
Die Anträge v. 15.03.2005 auf Aussetzung des Verfahrens und auf Aufhebung des Haftbefehls werden zurückgewiesen.
Die in dem schriftlichen Antrag mitgeteilten Tatsachen sind nur insofern neu als dass dort von einer Wahllichtbildvorlage mit der in dem weiteren Ermittlungsverfahren genannten Geschädigten Müller durchgeführt wurde und diese zu dem Ergebnis führte, dass diese den in jenem Verfahren ebenfalls als Beschuldigten geführten Angeklagten mit Sicherheit nicht wiedererkannt hat. Die weiteren Tatsachen, insbesondere zu dem ähnlichen modus poerandi und Täterverhalten waren bereits Gegenstand des vorliegenden Ermittlungsverfahrens. Insoweit geht die Kammer derzeit davon aus, dass über die in dem Antrag genannten Tatsachen hinaus sich aus jenem Ermittlungsverfahren keine weiteren Erkenntnisse ergeben. Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer keine Veranlassung, die Hauptverhandlung für heute auszusetzen. Vielmehr können sowohl dem Angeklagten als auch der Zeugin Kapinus entsprechend den im Antrag mitgeteilten Tatsachen Vorhalte gemacht werden. Die Kammer sieht es als ausreichend an, die genannten Akten beizuziehen und auf mögliche weitere Ermittlungsansätze zu überprüfen, wobei diese noch rechtzeitig vor Abschluss in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. Vorsorglich ist beabsichtigt, die Zeugin Kapinus für die Folgetage erneut vorzuladen.
Der Haftbefehl ist nicht aufzuheben bzw. außer Vollzug zu setzen, da durch die heute neu mitgeteilten Tatsachen der dringende Tatverdacht nicht ausgeräumt ist. Ein möglicher ähnlicher modus operandi bei gleichzeitigem Ausschluss des Angeklagten in dem anderen Ermittlungsverfahren läßt keine zwingenden Schlüsse auf das hiesige Verfahren zu. Auch unter Würdigung dieser neuen Tatsachen hält die Kammer nach derzeitigem Sachstand den dringenden Tatverdacht für gegeben.
b) Rechtliche WürdigungDurch die Zurückweisung des Antrags wurde die Verteidigung unzulässig beschränkt. Die Kammer geht in ihrer Begründung in keinster Weise auf den von der Verteidigung im Antrag geltend gemachten Vorbehalt ein, dass " eine vollumfängliche Befragung unter anderem der Zeugin Kapinus, der Polizeibeamtin Fülle und des Staatsanwalts Buick... ohne Kenntnis der benannten Akte nicht möglich " sei. Die Kammer beschränkt sich bei ihrer Einschätzung der Bedeutung der beizuziehenden Akte für das vorliegende Verfahren allein auf die von der Verteidigung im Aussetzungsantrag vorgebrachten neuen Tatsachen, ohne selbst eine inhaltliche Prüfung der beizuziehenden Ermittlungsakte vorzunehmen (vgl. BGH 29,149).Die von der Kammer in dem zurückweisenden Beschluss aufgestellte Behauptung, dass " die in dem schriftlichen Antrag mitgeteilten Tatsachen … nur insofern neu (sind) als dass dort von einer Wahllichtbildvorlage mit der in dem weiteren Ermittlungsverfahren genannten Geschädigten Müller " die Rede sei, ist schlichtweg falsch und verkennt in der gegebenen prozessualen Situation, die sich bereits am ersten Verhandlungstag als eine Aussage gegen Aussage Konstellation darstellte, das neben optischen Eindrücken insbesondere auch die akustischen Feststellungen zum Tatablauf aller Beteiligten von großer Bedeutung sind. So ist in dem Aussetzungsantrag der Verteidigung ausgeführt, dass " die betroffene Frau Müller in ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben (hat), dass der Täter nicht gut Deutsch gesprochen und irgendwas von nach Hause zu gehen geredet habe ". Mit exakt den gleichen Worten " Zusammen nach Hause? " hat auch der Täter im vorliegenden Fall sein Opfer, die Nebenklägerin, angesprochen. Dies hat die Zeugin Kapinus bereits in ihrer polizeilichen Vernehmung (Bl. 10 Bd.1 d.A.) mit dem Hinweis auf das gebrochene Deutsch des Täters erklärt und auch in der Hauptverhandlung wiederholt. Die Kammer hat in den Urteilsgründen (Blatt 9 UA) zwar ausgeführt, der Täter habe gefragt: " Zusammen nach Hause gehen? ", doch kommt es an dieser Stelle lediglich auf den identischen Sinn an, so dass es auf den Widerspruch hinsichtlich der grammatikalischen Vollständigkeit des Satzes an dieser Stelle zunächst nicht ankommt. Von dieser - zumindest bis dahin nach Aktenlage - auch akustischen uneingeschränkten Übereinstimmung der Tatabläufe erwähnte der im vorliegenden Verfahren abgeheftete Vermerk der Polizeibeamtin Fülle (Bl. 39 Bd.1 d.A.) nichts. Schließlich hat die Kammer in ihrer Begründung auch die Tatsache, dass der Angeklagte in der beizuziehenden Ermittlungsakte als Beschuldigter geführt wird, völlig ignoriert, wenn sie ausführt, dass " die weiteren Tatsachen,... bereits Gegenstand des vorliegenden Ermittlungsverfahrens " gewesen seien. Zumindest für die Verteidigung war vollkommen neu, dass ein weiteres Verfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung mit einer identischen Begehungsweise geführt worden war. Der aktenkundige Vermerk der Polizeibeamtin Fülle endet mit den Worten: " Ob es sich bei den oben angegebenen Sachverhalten um denselben Täter handelt kann mit letzter Sicherheit zur Zeit nicht gesagt werden". Weder für die Kammer noch für die Verteidigung war ersichtlich, aus welchem Grund der Angeklagte auch als Beschuldigter in dem weiteren Verfahren angeführt wurde.Die Verteidigung hatte auf Grund des zurückgewiesenen Aussetzungsantrag nicht die Zeit und die Möglichkeit zu überprüfen, welche weiteren Hinweise oder Ermittlungen dazu geführt haben, den Angeklagten trotz der eindeutigen Aussage der Zeugin Nadine Müller als Beschuldigten einzutragen. Die Kammer ihrerseits hat den Umstand, dass der Angeklagte nunmehr auch als Beschuldigter in einem anderen Verfahren mit gleichem Vorwurf geführt wurde nicht einmal als Neu erkannt, geschweige denn diesem Umstand Bedeutung für das vorliegende Verfahren oder zumindest die Verteidigung des Angeklagten beigemessen.Nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass die Hauptverhandlung an drei aufeinander folgenden Tagen vom 15.3. bis 17.3.05 terminiert war, wusste das Gericht, dass es der Verteidigung unmöglich ist, weitere Beweisüberlegungen oder gar eigene Ermittlungen zu dem identischen Fall anzustellen. Es bestand für die Verteidigung nicht die Möglichkeit, zu überprüfen, ob es in der Folgezeit zu der hier angeklagten Tat und zu den Vorfällen im Ermittlungsverfahren " zum Nachteil Nadine Müller " zu weiteren Sexualstraftaten in den nachfolgenden Nächten jeweils von Mittwoch auf Donnerstag gekommen ist. Gleiches gilt für den Umstand, dass es der Verteidigung in der Kürze der Zeit nicht möglich war, mit der betroffenen Nadine Müller Kontakt aufzunehmen, um zu klären, ob sich in ihrer Angelegenheit nach dem Abschluss des zunächst gegen den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahrens in der Folgezeit weitere Ermittlungsansätze gegen andere Personen ergeben haben.Die in der Hauptverhandlung vernommene Polizeibeamtin Fülle hat dazu lediglich erklärt, dass sie zwar eine Wahllichtbildvorlage mit der Geschädigten Nadine Müller durchgeführt habe, die Angelegenheit aber ansonsten - entgegen der anderslautenden Behauptungen der Kammer in den Urteilsgründen (Blatt 24 UA) - nicht von ihr bearbeitet worden sei. Die in die Hauptverhandlung im Selbstleseverfahren eingeführte Zeugenvernehmung der Nadine Müller wurde nicht durch die Zeugin Fülle, sondern durch eine Polizeibeamtin Kortleben durchgeführt (Blatt 42,49 d. Protokollbandes).Die Verteidigung wurde letztlich dadurch behindert, dass ihr nicht durch eine Aussetzung - oder Unterbrechung - die Zeit eingeräumt wurde, vor dem Hintergrund dieser neuen Erkenntnisse entsprechende Beweisanträge beispielsweise im Hinblick auf die Vernehmung des sachbearbeitenden Staatsanwalts Buick zu der Frage, warum der Angeklagte nach Vernehmung der Zeugin Nadine Müller und dem eindeutigen Ergebnis der Wahllichtbildvorlage als Beschuldigter eingetragen wurde, oder auf eine Vernehmung der Polizeibeamtin Kortleben zur Vernehmungssituation bei der Befragung der Nadine Müller oder auf eine Befragung der Nadine Müller selbst, vorzubereiten.Angesichts der oben dargestellten engen Terminierung war der Verteidigung durch die Ablehnung des Aussetzungsantrages letztlich auch die Möglichkeit genommen, den Angeklagten selbst in angemessener Form über Inhalt und Bedeutung der beigezogenen Akte zu informieren. Dies war aber umso mehr erforderlich, als dass dem Angeklagten in dem beizuziehenden Verfahren nicht einmal rechtliches Gehör gewährt worden war, obwohl die Bedeutung der Angelegenheit auch für die Ermittlungsbehörden offenkundig war.Die Weigerung der Kammer, der Verteidigung die erforderliche Zeit einzuräumen, stellt auch einen Verstoß gegen die Grundsätze des fair-trials und dabei insbesondere das Gebot der Waffengleichheit dar, als dass der Staatsanwaltschaft der Inhalt der beizuziehenden Ermittlungsakte angesichts der Identität des Sachbearbeiters beider Verfahren bekannt war, es aus unerfindlichen Gründen aber unterlassen hat, dem Gericht - und über das Akteneinsichtsrecht somit auch der Verteidigung - als notwendige Beiakte zur Verfügung zu stellen.
c) Das Urteil beruht auf dem RechtsfehlerAngesichts der Tatsache, das die Nadine Müller bei identischem Tatablauf einen dem Kläger ähnlichen, aber eben ausdrücklich nicht identischen Täter beschreibt, ist die Beiziehung und Einräumung einer angemessenen Zeit zur Prüfung der benannten Ermittlungsakte wesentlich für die Verteidigung. Die Verteidigung hätte bei rechtzeitiger Kenntnisnahme vom Inhalt der benannten Akte wie oben aufgezeigt anders geführt werden können. So hätte durch entsprechende Beweisanträge auf Vernehmung der Polizeibeamtin Kortleben als Zeugin aufgeklärt werden können, dass es eben nicht die Zeugin Fülle war „die die Geschädigte Müller vernommen hat“ (24 UA), sondern die benannte Zeugin Frau Kortleben (Bl. 42 d. Protokollbandes). In der Tat hat die Zeugin Fülle zunächst die Behauptung aufgestellt, Nadine Müller vernommen zu haben und äußerte auch schon ihren Eindruck über die Vernehmung, bevor ihr von seiten der Verteidigung unter Hinweis auf das Protokoll vorgehalten wurde, dass die Befragung durch die Polizeibeamtin Kortleben durchgeführt worden ist. Die Zeugin erklärte darauf, dass es zutreffend sei, dass nicht sie, sondern Frau Kortleben die Befragung durchgeführt hatte und sie lediglich eine Wahllichtbildvorlage durchgeführt hat. Die Vernehmung der Zeugin Kortleben hätte ergeben, dass entgegen der Feststellungen im Urteil, Nadine Müller „sei bei der Vernehmung nicht in der Lage gewesen, den Täter näher zu beschreiben“ (24 UA) diese sehr wohl ein konkretes Bild vom Täter hatte.
Eine erweiterte Beweisaufnahme unter Einbeziehung der vollständigen Erkenntnisse aus dem Verfahren „Nadine Müller“ hätte ergeben, dass es sich bei beiden Taten mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein und denselben Täter handelt. Die Aussage der Nadine Müller, der Angeklagte sei mit Sicherheit nicht der Täter, hätte dann einer Verurteilung entgegengestanden.Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, verkennt die Kammer auch nicht, dass dieser "Parallelfall" gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechen kann (Blatt 23 UA), Obwohl die Kammer die Wesentlichkeit des " Parallelfalls" also in den Urteilsgründen anerkennt, beschränkt sie sich in ihrer abweichenden Bewertung jedoch allein auf eine - fehlerhafte - Interpretation der im Selbstleseverfahren eingeführten Zeugenvernehmung der Nadine Müller. Dies ist nur möglich, weil der Verteidigung nicht die Möglichkeit eingeräumt wurde, auf die neue, veränderte Sachlage angemessen zu reagieren. Das Urteil beruht also auch auf dem gerügten Verstoß.
2. Gerügt wird die Verletzung des § 244 Absatz 3 Satz 2 StPO
Das Gericht hat einen Beweisantrag der Verteidigung zu Unrecht mit der Begründung, die unter Beweis gestellten Tatsachen werden als wahr unterstellt, zurückgewiesen.
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung hat in der Hauptverhandlung vom 16.3.05 den nachfolgenden Beweisantrag gestellt, welcher als Anlage 4 zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen wurde:
Ahrens & HilleRechtsanwälte
RAe Ahrens & Hille • Reinhäuser Landstr. 16 • 37083 GöttingenLandgericht GöttingenBerliner Str. 837083 Göttingen
Jürgen AhrensFachanwalt für StrafrechtOliver Hille Fachanwalt für StrafrechtNina Jüttner Rechtsanwälte
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In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 -
wird beantragt
ein Sachverständigengutachten durch einen Sachverständigen für die persische Sprache einzuholen,zum Beweis der Tatsache,dass die nach den Angaben der Zeugin Kapinus vom Täter wiederholte Male beschwichtigend gesprochenen Wörter bzw. Laute "Schu-Schu“(phonet.) nicht zum Wortschatz der persischen Sprache gehören.
Begründung:Die Zeugin Kapinus hat in ihrer polizeilichen Vernehmung am 15.8. 2003 angegeben, dass der Täter " während der gesamten Zeit... ständig die beschwichtigenden Worte „Schu-Schu“ wiederholte (Blatt 10,11 der Akte).Die Einholung des beantragten Sachverständigengutachtens wird ergeben, dass die von dem Täter verwendeten Worte nicht zum Sprachgebrauch der Persischen Sprache gehören. Die Muttersprache des Angeklagten ist Persisch.
Die beantragte Beweiserhebung ist für das Verfahren von Bedeutung, weil die Zeugin neben ihrem optischen auch den akustischen Eindruck vom Täter geschildert hat. Der Täter hat, nachdem er zuvor gebrochen Deutsch mit der Zeugin sprach, nach der Schilderung der Zeugin dann immer wieder die Worte „ Schu Schu“ wiederholt, wobei auf Grund der Umstände davon auszugehen ist, dass sich der Täter in der angespannten Tatsituation seiner Muttersprache bediene und nicht etwa eine eigene Sprache " erfunden " hat.
Die Prüfung sämtlicher Tatumstände und Täterinformationen ist bei der gegebenen prozessualen Situation zur Aufklärung des Sachverhalt unumgänglich.
Oliver HilleRechtsanwalt
Die Strafkammer hat über diesen Beweisantrag durch den in der Hauptverhandlung am 17.3.05 verkündeten Beschluss (Nr. 2 d. Beschlusses; Anlage 6 zum Hauptverhandlungsprotokoll) entschieden:" Die Beweisanträge des Verteidigers vom 16.3.05, jeweils Sachverständigengutachten zu den Tatsachen einzuholen, die Laute "schu- schu“ (phonetisch) gehören nicht zum Wortschatz der Persischen Sprache, sie gehören zum Wortschatz der arabischen Sprache im syrischen und libanesischen Bereich und bedeuten in ihrer Übersetzung sinngemäß " Was hast du denn?“ bzw. " Beruhige dich " werden abgelehnt. Diese Tatsachen werden als wahr unterstellt (§ 244 Absatz 3 Satz 2 StPO). "
Das Gericht führt in dem angefochtenen Urteil ( Blatt 25 UA) dazu aus, dass der Umstand, " dass der Täter bei der Tat immer wieder in beruhigendem Ton nach der Aussage der Nebenklägerin zu ihr kurze Silben gesagt hat, die sich nach der Schilderung der Nebenklägerin als "schu,schu " angehört haben“, nicht gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechen bzw. die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin erschüttern würden. Zwar werden die unter Beweis gestellten Tatsachen zu Gunsten des Angeklagten als wahr unterstellt. Die Kammer führt dann aber aus(Blatt 25 UA):" Andererseits musste jedoch bedacht werden, dass es sich bei diesen Silben eher um Laute handelte. Es ist deshalb keineswegs zwingend, dass der Täter diese auch in der Bedeutung erkannt und gemeint hat, denen sie im arabischen Sprachraum zukommt. Auch sieht es die Kammer als durchaus nicht ungewöhnlich an, dass Menschen in ihrer Sprache Laute benutzen, die in anderen Sprachen eine Bedeutung haben. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen. Nach Auffassung der Kammer lassen sich hieraus nur sehr begrenzt Rückschlüsse ziehen. "
b) Rechtliche WürdigungZunächst ist festzustellen, dass das Gericht in seinem Beschluss die in dem Beweisantrag vorgetragenen Tatsachen schon insoweit verkürzt, als dass der Beschluss lediglich von den Lauten "schu -schu " spricht, während der Beweisantrag ausdrücklich auf die vom Täter " wiederholte Male beschwichtigend gesprochenen Wörter bzw. Laute " Bezug nimmt.Bei der Wahrunterstellung hat das Gericht die in dem Beweisantrag behauptete Tatsache dem Sinn der Beweisbehauptung entsprechend und ohne jede Einschränkung zu Grunde zu legen (OLG Hamburg, 4.12.80; 1 Ss 211/80). Im Rahmen der Wahrunterstellung ist der Beweisantrag so auszulegen, dass der volle Sinn des Antrags ausgeschöpft wird. Das Gericht darf nicht von im Beweisantrag nicht erwähnten Möglichkeiten ausgehen, durch die das Beweisvorbringen seiner Bedeutung entkleidet wird (BGH NStZ 81,33).Die Verteidigung konnte bei der Wahrunterstellung im Beschluss auch angesichts der in dem Beweisantrag angeführten Begründung davon ausgehen, dass das Gericht den Sinn und die Bedeutung des Antrags vollumfänglich erkannt hat. Selbstverständlich erschöpft sich der Sinn des Antrags nicht in der Feststellung, dass die Wörter "schu-schu" zur arabischen Sprache gehören. Auf Grund der eindeutigen Formulierung des Beweisantrags ging es um die Feststellung der Tatsache, dass der "Täter wiederholte Male" die beschwichtigenden Wörter mit dem entsprechenden Sinngehalt gesprochen hat und sich daraus in begründeter Art und Weise Rückschlüsse auf Herkunft und Sprache des Täters ergeben.Dieser Erwartungshaltung der Verteidigung steht auch nicht die Anmerkung des Gerichts unter Ziffer 7 des Beschlusses entgegen, wonach " die vorgenannte Entscheidungen sich nur mit den jeweils dort genannten ausdrücklich unter Beweis gestellten Tatsachen befassen. Zur Nachvollziehbarkeit oder Nichtnachvollziehbarkeit der jeweils gegebenen Begründungen wird ausdrücklich keine Stellung genommen, sie werden durch die oben genannten Entscheidungen nicht erfasst ".
Die Beweistatsache war, dass der Täter Arabisch gesprochen hat. Dies ergibt sich aus dem Antrag selbst und der dazugehörigen Begründung. Wollte die Kammer von diesem Sinngehalt abweichen, so hätte sie dies nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens darlegen müssen. In der Anmerkung zu Ziffer 7 erklärt das Gericht lediglich, dass es im Übrigen zu den Begründungen der Anträge " keine Stellung " nimmt.Der Umgang der Kammer mit dem als wahr unterstellten Beweisantrag ist willkürlich. So führt die Kammer in den Urteilsgründen aus, " dass es sich bei diesen Silben eher um Laute handelte ", ohne diese Ansicht in irgendeiner Form zu begründen. Die Kammer lässt dabei sowohl die konsequente Aussage der Nebenklägerin als auch die maßgebliche Tatsituation völlig außer Acht. Die Nebenklägerin erklärte bereits bei ihrer polizeilichen Vernehmung einen Tag nach der Tat: " Dabei sagte er (der Täter, Anm. des Unterzeichners) leise und beschwichtigend zu mir: " Schu-Schu ". Für mich hörte es sich an, als wenn er mit einem kleinen Kind redet. " (Blatt 7,10 unten Bd.1 d.A.). Die als Zeugin vernommene Polizeibeamtin Frau Fülle, welche die benannte Vernehmung der Nebenklägerin durchgeführt hatte, bestätigte in der Hauptverhandlung diese konkreten Angaben der Nebenklägerin. Die Nebenklägerin selbst bestätigte dies auf Vorhalt auch in der Hauptverhandlung.Die Nebenklägerin hat die Wörter "schu-schu" so verstanden, dass sich der Täter mit diesen Worten mit einem in der Situation zumindest nachvollziehbaren bzw. logischen Inhalt an sie gewendet hat (" Dabei sagte er … zu mir... "). (Bl. 7, 10, Bd. 1 d. A.) Bei der Bewertung der Umstände ist auch zu berücksichtigen, dass die Nebenklägerin bereits in ihrer polizeilichen Vernehmung von einer " schätzungsweise " türkischen Abstammung ausging (Blatt 7,12 Bd.1d.A.), also einen Täter aus dem Vorderasiatischen Bereich beschreibt (Blatt 12 Mitte UA).Und genau in diesem Teil der Welt wird im Wesentlichen Arabisch auch mit den Worten "schu-schu " gesprochen, welche mit ihrem Sinngehalt zweifelsohne zu der von der Nebenklägerin geschilderten Situation passen. Wieso nun die Kammer meint, es müsse " bedacht werden " (Blatt 25 UA), dass es sich eher um Laute handelt führt die Kammer nicht aus. Es ist der Kammer in ihrer weiteren Begründung zuzugeben, das ist nicht " zwingend " ist, dass der Täter "schu-schu“ in der Bedeutung der arabischen Sprache erkannt und gemeint hat, es spricht aber eben nichts vernünftiges dagegen. Die Kammer erweckt an dieser Stelle der Urteilsbegründung aber den unzulässigen Eindruck, dass es Sache des Angeklagten ist, die seine Unschuld begründenden Umstände zu beweisen. Nur wenn diese Umstände für die Kammer zwingend sind, ist diese offensichtlich bereit, sie nicht zu ignorieren.Völlig aus der Luft gegriffen sind schließlich die Ausführungen der Kammer dass es "durchaus nicht ungewöhnlich" sei, " dass Menschen in ihrer Sprache Laute benutzen, die in anderen Sprachen eine Bedeutung haben. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen. "(Blatt 25 UA). Die Kammer unterlässt es, für die von ihr vertretene Auffassung irgendwelche Beispiele zu benennen. An welche " unbewussten " Laute, die von " Menschen in ihrer Sprache benutzt werden, die in anderen Sprachen eine Bedeutung haben. " und dazu - wie eben im vorliegenden Fall - auch noch eine richtige situationsangepasste Bedeutung haben, denkt die Kammer dabei? Dem Unterzeichner fällt jedenfalls nichts ein. Ein solcher von der Kammer konstruierter Zufall, dass irgendein fremder Laut nun gerade passend in einer außergewöhnlichen Situation artikuliert oder sonst wie verwendet wird ist völlig abwegig.Und wenn die Kammer auch die bewusste Verwendung fremder Sprache als theoretische Möglichkeit in Erwägung zieht, so ist dies auf Grund der Feststellungen in der Hauptverhandlung vorliegend unzulässig. Die Beweisaufnahme hat weder irgendeinen Hinweis auf arabische Sprachkenntnisse des Angeklagten ergeben, geschweige denn sind diesbezügliche Feststellungen getroffen worden. Selbst die Kammer geht ohne Einschränkung - oder Erweiterung - davon aus, dass die Muttersprache des Angeklagten Persisch ist (Blatt 25 UA). Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Kammer selbst in den Urteilsgründen – wenngleich sprachlich widerwillig – nicht umhin kommt, festzustellen, „dass ein Täter in anderweitigen Extremsituationen wie dem vorliegenden Tathergang durchaus eher dazu neigt, sich der Muttersprache zu bedienen“ (25 UA). Die konsensuale Frage warum der Täter dies in diesem Fall nicht getan haben soll, lässt das Gericht unbeantwortet. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die in der Hauptverhandlung anwesende vereidigte Dolmetscherin dargelegt hat, dass es sich bei der arabischen und persischen Sprache um zwei voneinander völlig unabhängige Sprachen handelt, die nicht einmal dem gleichen Wortstamm (wie z.B. die romanischen Sprachen) entstammen.Wenn die Kammer in ihrer Begründung also ausführt, der Täter habe bewusst Laute aus einer anderen Sprache benutzt, so hätte sie die Verteidigung vor Urteilsverkündung nach der vorangegangenen Wahrunterstellung darauf hinweisen müssen. Eines Hinweises, dass das Gericht der als wahr unterstellten Tatsache bei der Entscheidung nicht die gewünschte Bedeutung beimessen werde, bedarf es zwar vor der Urteilsverkündung nur, wenn es naheliegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, andere und eventuell weitergehende Beweisanträge zu stellen (OLG Hamm, NStZ 83,522). Genau dies ist aber vorliegend der Fall.
c) Das Urteil beruht auf dem RechtsfehlerIm vorliegenden Fall hätte der Angeklagte unter Beweis stellen können, dass ihm die arabische Sprache vollkommen unbekannt ist und er dementsprechend auch keine arabischen Wörter benutzt.Die Kammer vermeidet mit willkürlichen Argumenten die Auseinandersetzung mit den Beweistatsachen. Die Ablehnung des Beweisantrags mit der Wahrunterstellung ist fehlerhaft, da die Kammer mit ihrer Begründung deutlich machte, dass die Beweistatsachen für ihre Entscheidung bedeutungslos sind.Während optische Eindrücke von Geschehnissen Dritten in nachvollziehbare Weise nur schwer vermittelbar sind und lediglich der Versuch einer Annäherung durch die Erstellung eines Phantombildes oder der Vorlage von Lichtbildern möglich ist mit der Folge, dass dementsprechend später für Dritte die behauptete Wiedererkennung - wenn überhaupt - nur grob überprüfbar ist, sind akustische Eindrücke eines Geschehens von Beginn an klar zu dokumentieren. Dies mag nur eingeschränkt für Geräusche gelten, deren Ursprung nicht feststellbar ist. Im vorliegenden Fall hat die Nebenklägerin die akustische Situation inhaltlich eindeutig beschrieben.Anders als ein optisches Erinnerungsbild kann das gehörte somit auch bei einer verblassenden, sich verändernden Erinnerung auf Vorhalt konkret wieder überprüft und festgestellt werden.Genau dies ist auch vorliegend der Fall: Erstmals in der Hauptverhandlung hatte die Nebenklägerin zunächst bekundet, der Täter hätte "bsch-bsch " (vgl. Blatt 12 UA) gemacht, als ob er sie beruhigen wollte. Das "bsch-bsch " oder "psst-psst " sind Laute der deutschen Sprache, mit denen signalisiert wird, dass der Empfänger ruhig bzw. leise sein solle. Auf den Vorhalt, bislang "schu-schu " als akustische Erinnerung angegeben zu haben, räumte die Nebenklägerin dies ein und korrigierte ihre akustische Erinnerung dahingehend, dass der Täter immer wieder "schu-schu " gesagt hätte. Die Aussage der Nebenklägerin ist insoweit auch konsequent, als das sie zu keinem Zeitpunkt behauptet hat, der Täter habe während der Tatausführung noch andere Wörter oder Laute als „schu-schu“ von sich gegeben. Eindeutig erinnerte sich die Nebenklägerin daran, dass beruhigend auf sie eingeredet wurde.Die Erinnerung der Nebenklägerin war - nachvollziehbar - inzwischen inhaltlich verfälscht, auf Vorhalt in der Hauptverhandlung aber abrufbar. Ein solcher Vorhalt mit einer entsprechenden Überprüfungsmöglichkeit besteht bei optischen Tateindrücken eben nicht.Die Kammer konnte bei fehlerfreiem Umgang mit der Wahrunterstellung der Beweistatsachen wegen des eindeutigen akustischen Tatablaufs im Ergebnis nicht zu der Feststellung der Tätereigenschaft des Angeklagten kommen. Der Angeklagte hätte den Beweis führen können, dass er kein arabisch spricht. Diese Möglichkeit ist ihm durch die Wahrunterstellung genommen worden.
3. Gerügt wird die Verletzung des § 244 Absatz 3 Satz 2 StPO
Das Gericht hat einen Beweisantrag der Verteidigung mit der Begründung, die unter Beweis gestellten Tatsachen werden als wahr unterstellt, zu Unrecht zurückgewiesen.
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung stellte im Hauptverhandlungstermin vom 17.3.05 den nachfolgenden Beweisantrag, welcher als Anlage 5 (Blatt 74 des Protokollsbandes) zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen wurde:
Ahrens & HilleRechtsanwälte
RAe Ahrens & Hille • Reinhäuser Landstr. 16 • 37083 GöttingenLandgericht GöttingenBerliner Str. 837083 Göttingen
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Sparkasse Göttingen BLZ: 260 500 01 KTO: 432 067 88UstNr.: 20/235/75006Göttingen, 17.03.2005
In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 -
wird beantragt,
Herrn Professor Dr. Philipp Kreijenbroek, ladungsfähige Anschrift bereits benannt, als Zeugen zu laden und zu hören,zum Beweis der Tatsache,1. dass der Angeklagte erst nach einem Telefonat, welches der Zeuge an einem Tag nach dem 6.11.03 aus seinem Büro mit der Polizei geführt hatte, vom Zeugen über die gegen ihn - den Angeklagten - erhobenen Vorwürfe in der Form informiert wurde, dass er diese begriff und in ihrer Tragweite realisierte;2. dass der Angeklagte, nachdem ihm der Zeuge eröffnet hatte, worum es geht, von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen völlig überrascht und betroffen war.Begründung:Die Zeugin Kapinus hat in der Hauptverhandlung am 16.3.05 ausgesagt, sie sei bei der polizeilichen Kontrolle des Angeklagten am 5.11.03 davon ausgegangen, dass der Angeklagte die ihm vom Polizeibeamten vorgehaltenen Tatvorwürfe verstanden habe und er deswegen sie - die Zeugin - angegrinst habe.
Der Angeklagte hatte demgegenüber in seiner Einlassung dargestellt, dass er die polizeilichen Angaben nur teilweise, die Äußerungen der Zeugin und deren Begleiterin gar nicht verstanden hätte. Er habe in der Situation gegenüber allen Beteiligten nur freundlich bleiben wollen und habe da her die Zeugin auch angelächelt. Er hatte zwar verstanden, dass " ihn eine Frau wieder erkannt habe ", hatte aber keine Ahnung worum es dabei ging.
Unabhängig davon, dass die Zeugin Kapinus auf Nachfrage zwar einräumte, einen Unterschied zwischen Grinsen und Lächeln in der Mimik des Angeklagten nicht darstellen zu können aber dennoch an ihrer Behauptung eines Grinsen festhielt, wird die beantragte Zeugeneinvernahme ergeben, dass die Deutung der Zeugin Kapinus des Verhaltens des Angeklagten bei der polizeilichen Ansprache schon in der Ausgangslage falsch ist, da der Angeklagte entgegen der Vorstellung der Zeugin Kapinus eben nicht die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verstanden hat.
Dem steht letztlich auch nicht entgegen, dass der Angeklagte zum damaligen Zeitpunkt schon über erhebliche umgangsprachliche Kenntnisse und Fähigkeiten der deutschen Sprache verfügte, da die Wörter " sexuelle Nötigung und Vergewaltigung zum Nachteil XY " nicht zum Basiswortschatz der deutschen Sprache gehören.
Oliver HilleRechtsanwalt
Die Strafkammer hat in der Hauptverhandlung vom 17.3.05 über diesen Beweisantrag durch Beschluss (Ziffer 5 des Beschlusses, Anlage 6) entschieden:" Der Beweisantrag des Verteidigers im Schriftsatz vom 17.3.05, den Zeugen Prof. Dr. Kreijenbroek zu den dort genannten Tatsachen (fett gedruckte Sätze) also dem Telefonat mit der Polizei beziehungsweise die Reaktion des Angeklagten hierauf, wird abgelehnt. Die Tatsachen werden als wahr unterstellt (§244 Absatz 3 Satz 2 StPO). Die Kammer legt den Antrag bezüglich der Reaktionen des Angeklagten dahin aus, dass der Zeuge nur Bekundungen dazu machen kann, wie er das Verhalten des Angeklagten wahrgenommen und interpretiert hat. "
In den Urteilsgründen führt die Kammer zu diesem Punkt aus (Blatt 28 UA):" Schließlich hat die Kammer es als auch nicht der Täterschaft entgegenstehend angesehen, dass der Angeklagte... sich gegenüber seinem Doktorvater, Prof. Dr. Kreijenbroek, bei einem Gespräch in der Art präsentiert hat, dass dieser annehmen musste, der Angeklagte werde erstmals mit dem Vorwurf konfrontiert. Beides sind aus Sicht der Kammer keine Umstände, aus denen aussagekräftige Rückschlüsse gezogen werden können. "
b) Rechtliche WürdigungEs ist bereits ausgeführt worden, dass das Gericht bei der Wahrunterstellung seinen Feststellungen die in dem Beweisantrag behauptete Tatsache dem Sinn der Beweisbehauptung entsprechend und ohne jede Einschränkung zu Grunde zu legen hat (OLG Hamburg, a.a.O.). Eine Wahrunterstellung wird unzulässigerweise eingeengt, wenn zum Beispiel die Beweisbehauptung dahin ging, der Angeklagte habe nach der Tat unter Schock gestanden, das Urteil aber davon ausgeht, der Angeklagte habe auf den Zeugen lediglich einen solchen - möglicherweise unrichtigen - Eindruck gemacht (BGH, StrVert 90,49). Unterstellt das Gericht eine dem Inhalt eines Beweisantrags entsprechende Aussage eines Zeugen als wahr, ist es rechtsfehlerhaft, diese - ohne sich einen persönlichen Eindruck von dem Zeugen zu verschaffen - als unglaubhaft zu werten (BGH StrVert 95,5).Das Gericht hat in seinem Beschluss die Beweistatsache, dass der Angeklagte gegenüber dem benannten Zeugen Prof. Dr. Kreijenbroek völlig überrascht und betroffen reagierte, nachdem ihm der Zeuge den gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurf eröffnete, als wahr unterstellt. Die Einschränkung der Kammer, dass der Zeuge nur Bekundungen dazu machen kann, wie er das Verhalten des Angeklagten wahrgenommen und interpretiert hat, ist unbeachtlich, da dies bei Bekundungen von Zeugen über das Verhalten Dritter in der Natur der Sache liegt. Während die Kammer für den Zeugen Kreijenbroek beschließt, dass aus dessen Beobachtungen " aussagekräftige Rückschlüsse" nicht gezogen werden können, bezieht sich die Kammer bei der Sammlung "aussagekräftiger Rückschlüsse " hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin und der Glaubhaftigkeit der Angaben sehr wohl auf die Bekundungen Dritter, namentlich der Zeugin Sinning (Blatt 22 UA „… die Nebenklägerin sei aufgelöst gewesen... Die Zeugin hat auch bekundet, sie sei mit der Nebenklägerin nicht näher befreundet, so dass gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin keine Bedenken bestehen ") und insbesondere der Zeugin Fülle (Blatt 16, UA; " dieser Einschätzung entspricht es auch, dass die Nebenklägerin nach ihrer eigenen Aussage sich von Anfang an mit großer Ernsthaftigkeit und Sicherheit an der Ermittlung des Täters beteiligt hat. Hervorzuheben ist, dass die Nebenklägerin bei ihrer Vernehmung durch die Polizei sich viele Karteifotos möglicher Täter angeschaut hat und - insoweit auch noch übereinstimmender Aussage der Zeugin Fülle - jeweils eine sichere Einschätzung und Aussage dazu abgegeben hat, dass es sich bei den auf den Vorstoß abgebildeten Personen nicht um den Täter handelt ") bezieht. Die Kammer misst hier mit zweierlei Maß. Wenn sie denn entgegen der Wahrunterstellung dem Zeugen Kreijenbroek nicht glauben will, so hätte sie diesen nach der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs zumindest anhören müssen.Auch diesen Beweisantrag weist die Kammer mit der Wahrunterstellung zurück, macht in der Begründung in diesem Fall aber ausdrücklich deutlich, das für sie die Beweistatsache unbedeutend ist, wenn im Urteil ausgeführt wird, das aus dem benannten Umständen aussagekräftige Rückschlüsse nicht gezogen werden können. Deutlicher kann man die Bedeutungslosigkeit einer Beweistatsache nicht formulieren.
c) Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler, da die Kammer infolge der Wahrunterstellung auf die notwendige Vernehmung des benannten Zeugen Kreijenbroek verzichtet hat. Die Authentizität des Eindrucks des Zeugen von der Reaktion des Angeklagten ist für die vorliegend gebotene Bewertung sämtlicher Tatumstände von maßgeblicher Bedeutung. Der Zeuge hätte dargelegt, dass er keinen Zweifel an der Authentizität der Überraschung und Betroffenheit des Angeklagten hatte.
4. Gerügt wird die Verletzung des § 244 Absatz 3 Satz 2 StPO
Das Gericht hat einen Beweisantrag der Verteidigung mit der Begründung, die unter Beweis gestellten Tatsachen werden als wahr unterstellt, zu Unrecht zurückgewiesen.
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung stellte im Hauptverhandlungstermin vom 17.3. 05 den nachfolgenden Beweisantrag, welcher als Anlage 1 (Blatt 60 des Protokollbandes) zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen wurde:
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In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 - wird beantragt
ein molekulargenetisches Sachverständigengutachten - ein sogenanntes DNA Gutachten - durch das Landeskriminalamt einzuholen,zum Beweis der Tatsache,1. dass an den von der Polizeiinspektion in Göttingen sichergestellten Bekleidungsstücken der Zeugin Kapinus (Blatt 20 der Akte) genetische Spuren des Täters nach wie vor vorhanden sind und festgestellt werden können;2. dass an den von der Polizeiinspektion Göttingen sichergestellten Bekleidungsstücken der Zeugin Kapinus (Blatt 20 der Akte) genetische Spuren des Angeklagten nicht vorhanden sind;3. dass an den von der Polizeiinspektion Göttingen sichergestellten Bekleidungsstücken der Zeugin Kapinus (Blatt 20 der Akte) genetische Spuren vorhanden sind, welche Ermittlungsansätze im Hinblick auf andere Täter als den Angeklagten bieten.
Begründung:Im vorliegenden Verfahren beruhen die Anklage und die erstinstanzliche Verurteilung einzig und allein auf der belastenden Aussage der Zeugin Kapinus.
Angesichts der Tatsache, dass selbst bei einer eingehenden Befragung von Zeugen eine inhaltliche Präzisierung und Veranschaulichung des Wiedererkennungserlebnisses kaum möglich ist, so dass die in der Psychologe entwickelten Kriterien zur Beurteilung des Realitätsgehalts von Zeugenaussagen wegen der Kürze und Detailarmut der Aussage weitgehend versagen (Odenthal; Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, 3. Auflage, Seite 101), müssen sämtliche weiteren Umstände welche zum einen der Aufklärung der Tat zum anderen aber auch der Überprüfung des Realitätsgehalts der Zeugenaussage dienlich sein können, überprüft werden.
Die Zeugin Kapinus ist bereits am Nachmittag des Tattages, dem 14.8.03, bei der Polizeiinspektion Göttingen erschienen und hat den Vorfall zur Anzeige gebracht. An diesem Tag wurde " vereinbart, dass sich die Polizei am morgigen Vormittag mit ihr hinsichtlich der weiteren erforderlichen, polizeilichen Maßnahmen in Verbindung setzen wird " (Blatt 5 der Akte). Eine Sicherstellung der Kleidung als maßgebliches Beweismittel erfolgte an diesem Tag nicht.
Am 15.8.03 wurde bei der Polizeiinspektion Göttingen die Zeugenvernehmung der Frau Kapinus durchgeführt. Frau Kapinus erklärte dabei: " Während der Tat habe ich eine Jeanshose und ein T-Shirt getragen. Ich werde diese Bekleidungsstücke der Polizei übergeben. Meinen Slip habe ich zwischenzeitlich bereits gewaschen. " (Blatt 12 der Akte). Eine Sicherstellung der Kleidung als maßgebliches Beweismittel erfolgte auch an diesem Tag nicht.
Die Niederschrift über die Sicherung der Bekleidung erfolgte erst unter dem 3.11.03 (Blatt 20 der Akte).
Herrn Tivay wurde am 5.11.03 im Rahmen der erkennungsdienstliche Behandlung eine DNA-Probe von der Mundschleimhaut entnommen.
Sämtliche gebotenen Ermittlungen in Bezug auf objektive Beweismittel sind unterblieben. Obwohl die Zeugin Kapinus bereits am Tattag bei der Polizei erschienen ist wurden die Kleidungsstücke nicht unverzüglich sichergestellt. Frau Kapinus wurde auch nicht belehrt, ihren Slip nicht zu waschen.
Zudem hatte die Zeugin Kapinus in ihrer ersten polizeilichen Vernehmung dargestellt, dass der Täter ihr " am Ende des Platzes... dann so in das Lenkrad (Griff), dass ich gezwungen war ab zu steigen ". Eine Untersuchung des Fahrrads der Zeugin - insbesondere des Lenkrades - auf Fingerspuren wurde nicht veranlasst.
Während die Überprüfung der Fingerspuren unwiederbringlich ist, besteht auch nach einem längeren Zeitraum die begründete Aussicht, ja Gewißheit, dass an der Bekleidung der Zeugin Kapinus Haare, Hautpartikel oder andere DNA-Träger noch gesichert werden können. Die Zeugin Kapinus hat ausdrücklich erklärt, dass sie allein ihren Slip, nicht aber die übrige Kleidung gereinigt hat.
Da das erstinstanzliche Gericht einen entsprechenden Antrag des damaligen Verteidigers des Angeklagten, Herrn Rechtsanwalt Brunotte, mit dem Hinweis, dass das Vorhandensein genetischen Materials nach der " Lebenserwartung " nicht zu erwarten sei ablehnte, ist nunmehr die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Beweistatsache zu 1. erforderlich.
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Beweistatsache zu 2. ist für das Verfahren von Bedeutung, weil das Ergebnis der Begutachtung zumindest die Darstellung des Angeklagten, dass nicht er der Täter ist, stützt und gleichermaßen im objektiven Widerspruch zu dem behaupteten Wiedererkennen der Zeugin steht.Schließlich ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Beweistatsache zu 3. erforderlich, da die Ermittlungen hinreichende Verdachtsmomente auf einen anderen Täter als den Angeklagten ergeben haben. Es wird insoweit zunächst auf die Ausführungen in den vorangegangenen Beweisanträgen zum Sprachverhalten des Täters – also den akustischen „Beobachtungen“ der Zeugin Kapinus – während der Tat Bezug genommen.
Darüber hinaus hatte die Polizeiinspektion Göttingen wegen einer sexuellen Nötigung zum Nachteil der Nadine Müller in der Nacht vom 20. auf den 21.8.03 unter der Tagebuchnummer 20035346, staatsanwaltschaftliches Aktenzeichen 45 Js 4195/04, ein weiteres Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Vermerk vom 4.11. 2003 hatte die zuständige Sachbearbeiterin ausgeführt: " Ob es sich bei den angegebenen Sachverhalten um denselben Täter handelt kann mit letzter Sicherheit zur Zeit nicht gesagt werden. Anhand der Übereinstimmungen im Modus operandi dürfte ein Tatzusammenhang jedoch wahrscheinlich sein ". In der Tat hat die Vernehmung der Nadine Müller ergeben, dass der Tatzeitpunkt - zwischen 4:30 Uhr und 5:00 Uhr -, sowie die Tatbegehung mit der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat übereinstimmen. Nadine Müller war nach einem Diskothekenbesuch mit ihrem Fahrrad auf dem Weg nach Haus, als plötzlich ein Unbekannter mit dem Fahrrad auftauchte und neben ihr herfuhr. Wie im vorliegenden Fall wurde auch Nadine Müller von dem Unbekannten so abgelenkt, dass sie nicht mehr weiterfahren konnte. Der Täter hat Frau Nadine Müller dann festgehalten und in eine dunkle Ecke gedrängt, dort gewürgt und den Mund zugehalten. Wie im vorliegenden Fall hat der Täter gebrochen Deutsch gesprochen und hat " irgendwas von nach Haus zu gehen " geredet.
Frau Nadine Müller sind Lichtbilder des Angeklagten vorgelegt worden. Frau Müller hat dazu erklärt: " Nach eingehender Betrachtung erkenne ich eine dem Täter ähnlich sehende Person auf Bild Nr. 4 (Herr Tivay). Von den abgebildeten Personen ist der Mann auf Bild Nr. 4 dem Täter am ähnlichsten. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine vage Angabe zum Tätertyp. Er ist mit Sicherheit nicht der Täter ".
Es bestehen hinreichende Anhaltspunkte auf Grund der Ermittlungen dafür, dass auf der sichergestellten Kleidung der Zeugin Kapinus DNA Spuren des tatsächlichen Täters vorhanden sind. Aus unerfindlichen Gründen ist es unterblieben, die zunächst sichergestellte Bekleidung der Nadine Müller auch auf die DNA Spuren zu untersuchen. Obendrein sind dieser Zeugin die Kleidungsstücke wieder ausgehändigt worden, so dass mögliche – den Mandanten entlastende – Beweise vernichtet worden sind. Die Frage, ob beide Taten vom gleichen Täter begangen wurden hätte dann gegebenenfalls mit einer hohen Wahrscheinlichkeit beantwortet werden können.
Oliver HilleRechtsanwalt
Die Strafkammer hat diesen Beweisantrag durch Beschluss (Ziffer 3 des Beschlusses, Anlage 6; Blatt 76 des Protokollbandes) zurückgewiesen:" Der Beweisantrag des Verteidigers im Schriftsatz vom 17.3.05, ein molekulargenetisches Sachverständigengutachten zu den dort in Ziffern 1 bis 3 genannten Tatsachen (fett gedruckte Sätze) einzuholen, wird abgelehnt. Diese Tatsachen werden als wahr unterstellt gemäß § 244 Absatz 3 Satz 2 StPO. "
In den Urteilsgründen führt das Gericht dazu aus, dass die in dem Beweisantrag genannten und als wahr zu Gunsten des Angeklagten unterstellten Tatsachen nicht gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechen. Im Übrigen sei der Kammer aus anderen Verfahren bekannt, dass nicht jede Berührung eines Gegenstandes durch einen Menschen molekulargenetische Spuren hinterließe. Das Gericht führt weiter aus: " Vielmehr hängt die Frage, ob durch Berührung sog. Epithelzellen oder ähnliche DNA Träger hängen bleiben von Art, Ausmaß, Intensität der Berührung sowie dem Berührungsprofil ab. Ist die Berührung eher kurz, so ist es unwahrscheinlich, dass Epithelzellen vorhanden sind. "(27 UA). Im Ergebnis geht die Kammer im vorliegenden Fall von eher kurzzeitigen Berührungen aus (27 UA).Aus der Sicht der Kammer könne aus dem Fehlen von DNA Spuren des Angeklagten nicht geschlossen werden, dass er nicht der Täter ist. Darüber hinaus gelte gleiches " für den Umstand, dass an der Kleidung der DNA Spuren anderer (männlicher) Personen vor Handeln sind. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass diese DNA Spuren auch von Berührungen durch Personen stammen können, die schon vor dem Tatgeschehen stattfanden. "(27 UA).
b) Rechtliche WürdigungDurch die Wahrunterstellung hat die Kammer bei dem Angeklagten und der Verteidigung den Eindruck erweckt, dass das Gericht die Tatsache, dass 1. an der sichergestellten Kleidung der Zeugin Kapinus nach wie vor genetische Spuren vorhanden sind und festgestellt werden können, 2. diese nicht vom Angeklagten stammen und 3. an den sichergestellten Bekleidungsstücken der Nebenklägerin genetische Spuren vorhanden sind, welche Ermittlungsansätze im Hinblick auf andere Täter als den Angeklagten bieten, als Tatsachengrundlage anerkennt.Erachtet das Gericht durch Beschluss eine unter Beweis gestellte Tatsache als erwiesen, so dürfen sich die Urteilsfeststellungen dazu nicht im Widerspruch setzen (BGH NStZ 89 ,83).Die Ausführungen der Kammer zu der Frage, inwieweit Epithelzellen an der sichergestellten Kleidung der Nebenklägerin vorhanden sind, sind aus tatsächlichen Gründen falsch und aus rechtlichen Gründen auf Grund der Wahrunterstellung unzulässig. Die Nebenklägerin hat in der Hauptverhandlung wie bereits in ihrer polizeilichen Vernehmung (Bl. 11, 2. Absatz, Bd.1 d.A.) ausgeführt, dass der Täter zunächst den Gürtel und dann den Reißverschluss der Jeanshose der Nebenklägerin geöffnet hatte, bevor er anschließend den Slip und die Jeanshose nach unten schob. All diese Tätigkeiten führte der Täter nur mit einer Hand aus, da er das Opfer die ganze Zeit mit der anderen Hand am Kehlkopf umfasst hielt. Das Gericht unterlässt es, auszuführen, wie es zu dem Schluss kommt, dass die Umstände " eher für kurzzeitige Berührungen " sprechen. Diese Wertung lässt sich mit den objektiven Feststellungen im Rahmen der Beweisaufnahme nicht in Einklang bringen.Zudem ist auch die vom Gericht verwendete Formel " kurze Berührung " unbestimmt und willkürlich. Ganz unabhängig davon, dass auch nur ein Kratzen zum Beispiel an der Gürtelschnalle - also eine nur augenblickliche, zufällige Berührung - molekulargenetische Spuren hinterlassen kann, lässt die Begründung des Gerichts offen, was sie unter einer " kurzen Berührung " versteht. Die Ausführungen des Gerichts sind daher nicht nachvollziehbar und dementsprechend nicht überprüfbar.Im Ergebnis offenbaren die Ausführungen des Gerichts in den Urteilsgründen jedoch nur, dass die Kammer die zunächst als wahr anerkannten Tatsachen bei der Begründung des Urteils nicht mehr akzeptieren will, da sich angesichts der Beweistatsache unter Ziffer 1 des Beweisantrags die aufgezeigten Erklärungen in der Kammer ohnehin erledigt hatten.Aus den Urteilsgründen ergibt sich auch nicht, woher die " Kammer " Kenntnisse über das Vorhandensein und Entstehen molekulargenetischer Spuren haben will (27 UA). Der Hinweis auf " andere Verfahren " mag für den Vorsitzenden zumindest vordergründig nachvollziehbar sein, bedarf aber hinsichtlich der Schöffen zweifelsohne überprüfbarer Angaben, wenn dies denn zur Begründung eines Urteils berücksichtigt wird. Die Urteilsgründe müssten, da die betreffenden Fachfragen das Allgemeinwissen eines Gerichts eindeutig überschreiten, ausweisen, dass das Gericht zu Recht seine eigene Sachkunde für sich in Anspruch genommen hat (LR-Gollwitzer, § 244 Nr. Rdnr. 303 m.w.N. in Fn. 1223). Dazu macht die Kammer aber vorliegend keinerlei Angaben. Auf die unter Ziffer 3 des Beweisantrags benannte und als wahr unterstellte Beweistatsache, dass die auf der Kleidung vorhandenen Spuren Ermittlungsansätze im Hinblick auf andere Täter bieten, wird in der Urteilsbegründung lediglich mit einem im Widerspruch zu den vorangegangenen Ausführungen stehenden und durch die Beweisaufnahme nicht zu rechtfertigenden Satz eingegangen. Entgegen der Darstellung der Kammer ist es eben nicht ausreichend, zu behaupten, " dass diese DNA Spuren auch von Berührungen durch Personen stammen können, die schon vor dem Tatgeschehen stattfanden " (Blatt 27, unten,UA). Das Gericht hatte selbst ausgeführt, das nach seiner Überzeugung bei kurzzeitigen Berührungen es unwahrscheinlich ist, dass an einem Gegenstand Epithelzellen vorhanden sind. Die Nebenklägerin - oder Dritte - hat weder im Ermittlungsverfahren noch im Rahmen der Beweisaufnahme ausdrücklich erklärt oder auch nur Hinweise dafür gegeben, dass irgendeine andere (männliche oder weibliche) Person außer dem Täter an ihren Gürtel, ihren Reißverschluss, ihre Jeanshose, ihren Slip oder irgendein anderes Bekleidungsstück gefasst hätte.Wegen der weitgehenden Unzuverlässigkeit menschlicher Beobachtungen ist die Auswertung von Spuren von besonders großer Bedeutung (Meyer-Goßner § 261 Rdn. 11 c.)Durch die Wahrunterstellung hat das Gericht bei der Verteidigung und dem Angeklagten den Eindruck erweckt, dass es seinerseits die weitere Aufklärungsmöglichkeit anhand der auf der sichergestellten Bekleidung vorhandenen DNA Spuren erkennt. Diese durch den zurückweisenden Beschluss begründete Einschätzung hat das Gericht in der Urteilsbegründung überraschend aufgegeben und die Beweistatsachen durch die gewählte Argumentation für bedeutungslos erklärt. Im Übrigen stellt sich die Urteilsbegründung als eine unzulässige Beweisantizipation dar. Die Zurückweisung des Beweisantrags gemäß § 244 Absatz 3 Satz 2 a.E. StPO war somit fehlerhaft.
c) Das Urteil beruht auch auf diesem Rechtsfehler. Durch die Wahrunterstellung hat das Gericht der Verteidigung die Möglichkeit genommen, Beweisanträge im Hinblick auf weitere Ermittlungen zu stellen. Dies wäre zweifelsohne möglich gewesen, wenn die an der Kleidung des Opfers festgestellten molekulargenetischen Spuren einer der im Rahmen der Lichtbildvorlagen von der Nebenklägerin (u.a. Bl. 37 Bd.1 d.A.) oder auch dem Zeugen Denshykov (Bl. 49 Bd.1d.A.) als dem Täter zumindest ähnlich sehende Person als einer im DNA-Register z. B. einschlägiger Delikte vorbestraften Person zuzuordnen gewesen sei. Da die Kammer zwar die Aufklärungsmöglichkeit in dem Beschluss als wahr unterstellt, in den Urteilsgründen diese aber mit dem Hinweis, dass es einer " näheren Darlegung " (27 unten UA) nicht bedürfe, verweigerte, konnte die Verteidigung nicht mehr reagieren.
5. Gerügt wird die Verletzung des § 244 Absatz 3 Satz 2 StPO
Das Gericht hat einen Beweisantrag der Verteidigung mit der Begründung, die unter Beweis gestellten Tatsachen werden als wahr unterstellt, zu Unrecht zurückgewiesen.
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung hat in der Hauptverhandlung am 17.3.05 dem nachfolgenden Beweisantrag gestellt, welcher als Anlage 4 (Blatt 71 des Protokollbandes) zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen wurde:
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In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 -
wird beantragt,
1. Herrn Pastor Gert Liebennehm, evangelische Studierenden Gemeinde, von-Bar-Straße 2/4,37075 Göttingen; 2. Herrn Professor Dr. Philip G. Kreijenbroek, zu laden über Seminar für Iranistik, Prinzen Straße 21,37073 Göttingen;3. den Lehrer des Sprachkurses Deutsch als Fremdsprache, Mittelstufe II, Kurs-Nr. 031-7129 der VHS Göttingen als Zeugen zu laden und zu hören.In das Wissen der Zeugen wird gestellt, dass
1. der Angeklagte im August 2003 - also dem Tatzeitraum - auf Grund seiner Sprachkenntnisse und Sprachfähigkeiten ohne Zweifel in der Lage war, der von der Zeugin Kapinus in ihrer polizeilichen Vernehmung geschilderten Frage des Täters " Zusammen nach Hause? " das erforderliche Personalpronomen und Verb zur Vervollständigung des Satzes hinzu zufügen.2. der Angeklagte im August 2003 – also dem Tatzeitraum – aufgrund seiner Sprachkenntnisse und Sprachfähigkeiten ohne Zweifel in der Lage war, die von dem Zeugen Denshykov dargestellte Behauptung des Täters, der angebliche Freund des Opfers zu sein, klarer und umfangreicher als nur mit den Worten „Freund, Freund“ hätte ausdrücken können.
Begründung:Die Zeugin Kapinus hat in ihrer polizeilichen Vernehmung (Blatt 10 der Akte) und in der Hauptverhandlung am 16.03.2005 dargestellt, dass der Täter sie in in gebrochenem Deutsch mit den Worten " Zusammen nach Hause? " angesprochen habe.
Der Zeuge Deuchykov hat in der Hauptverhandlung am 16.03.2005 angesagt, der Täter habe wiederholt die Worte „Freund, Freund“ gesprochen, wobei der Zeuge aufgrund der Umstände davon ausging, dass der Täter damit zum Ausdruck bringen wollte, dass er angeblich der Freund oder Partner des Opfers sei.
Die Beweisaufnahme wird ergeben, dass der Angeklagte, der bereits in seinem Heimatland für mehr als ein Jahr Student am deutschen Sprachinstitut Teheran war, im August 2003 die deutsche Umgangssprache so gut beherrschte, dass er einfache elementare Sätze, wie ihn der Täter an die Zeugin Kapinus und den Zeugen Deushykov gerichtet hatte, in vollständiger und richtiger Form bilden konnte. Das von der Zeugin Kapinus und den Zeugen Deushykov geschilderte Sprachniveau des Täters ist mit den Deutschkenntnissen des Angeklagten nicht in Einklang zu bringen.
Die Durchführung der Beweisaufnahme ist für das Verfahren von Bedeutung, da angesichts der allgemein anerkannten Unsicherheiten des Wiedererkennens sämtliche Umstände des Falles zu prüfen und zu werten sind.
Oliver HilleRechtsanwalt
Das Gericht hat durch den in der Hauptverhandlung verkündeten Beschluss (Ziffer 4, Anlage 6 zum Hauptverhandlungsprotokoll; Blatt 76 des Protokollbandes) den Antrag wie folgt abgelehnt:" Der Beweisantrag des Verteidigers im Schriftsatz vom 17.3.05, die Zeugen Pastor Liebennehm, Prof. Dr. Kreijenbroek, den Lehrer für Sprachkurs Deutsch zu den auf Seite 2 dieses Schriftsatzes genannten Tatsachen betreffend die Sprachkenntnisse des Angeklagten im August 20003 (fettgedruckte Sätze)zu hören wird abgelehnt. Die Tatsachen werden als wahr unterstellt (§ 244 Absatz 3 Satz 2 StPO). "
Das Gericht führt in den Urteilsgründen (26, unten,UA) aus, dass die Kammer zwar den Umstand berücksichtigt hat, " dass der Angeklagte im August 2003 auf Grund seiner Sprachkenntnisse und Sprachfähigkeiten ohne Zweifel in der Lage war sowohl dem Satz " Zusammen nach Hause? " noch das erforderliche Personalpronomen und Verb hinzuzufügen als auch klarer und umfangreicher als nur mit den Worten " Freund, Freund " sich gegenüber dem Zeugen Denshykov auszudrücken " vermochte, dies aber die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin zur Täterschaft des Angeklagten nicht erschüttern würde. Zur Begründung führt das Gericht weiter aus (Blatt 27UA): " Allein der Umstand dass der Angeklagte hierzu in der Lage war sagt noch nichts darüber aus, ob und wie er sich tatsächlich in bestimmten Situationen tatsächlich ausgedrückt hat. Hieraus Schlüsse abzuleiten verbietet sich schon deshalb, weil zum einen der Angeklagte nach seiner eigenen Einlassung bereits damals noch einen Deutschkurs besuchte um seine Sprachkenntnisse zu verbessern und zum anderen nach seiner eigenen Einlassung noch Monate später Anfang November 2003 bei seiner Ansprache durch die Polizei in der Fußgängerzone vieles nicht verstanden haben will. ".
b) Rechtliche WürdigungIm Rahmen der Wahrunterstellung ist der Beweisantrag so auszulegen, dass der volle Sinn des Antrags ausgeschöpft wird. Das Gericht darf nicht von im Beweisantrag nicht erwähnten Möglichkeiten ausgehen, durch die das Beweisvorbringen in seiner Bedeutung entkleidet wird (BGH NStZ 81,33).Für jeden unvoreingenommenen und vernünftigen Dritten ist offenbar, dass der Sinn der im Antrag genannten Beweistatsachen dahin geht, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat zumindest im Alltagsbereich auf Grund seiner Sprachkenntnisse in vollständigen Sätzen sprechen konnte und gesprochen hat. Die Reduzierung der Beweistatsache allein auf die Fähigkeit der vollständigen Satzbildung, auf welche das Gericht noch durch die Unterstreichung deutlich hinweist, ist sinnwidrig. Der Beweisantrag muss zusammen mit der Begründung im Gesamtzusammenhang des Tatablaufs und der Persönlichkeit des Angeklagten gesehen und bewertet werden.Das Gericht hat die hinreichenden Sprachkenntnisse des Angeklagten als wahr unterstellt. Es wäre demnach Sache des Gerichts gewesen, schlüssig darzulegen, warum der Angeklagte in der von der Nebenklägerin und dem Zeugen Denshykov geschilderten Situation seine Sprachfähigkeit hätte unterdrücken beziehungsweise verstellen sollten. Warum hätte der Täter, wenn er denn über die - als wahr unterstellten - Sprachkenntnisse des Angeklagten verfügt hat, die Nebenklägerin auf dem Campus in einer solch unzulänglichen Form (" zusammen nach Hause? ") ansprechen sollen? Unterstellt man eine geplante Tat, so wäre es von einem Täter mit entsprechenden Sprachkenntnissen zu erwarten gewesen, dass er sich die Mühe gibt, sein potenzielles Opfer zunächst durch einfache Konversation in Sicherheit zu wiegen. Es ist auch abwegig, dass ein Täter, der sich seinem Opfer in dem auf dem Campusgelände am hellsten beleuchteten Bereich nähert und damit ein vollständiges Erkennen in Kauf nimmt, seine Sprache verändert um eventuelle Wiedererkennung zu vermeiden.Geht man von einer spontanen Tat aus, so wäre zu erwarten, dass sich der Täter auf Grund seiner vorhandenen Sprachkenntnisse zumindest solange mit dem späteren Opfer auf seinem normalen Sprachniveau unterhält, bis er nach Beginn der Tatausführung in seine Muttersprache wechselt.Völlig unerklärlich wäre angesichts der Sprachkenntnisse des Angeklagten das vom Zeugen Denshykov geschilderte Verhalten des Täters. Der Zeuge Denshykov hat sich zwischen den Täter und das Opfer gestellt und den Täter abgedrängt, wobei dieser so etwas wie " Freund, Freund " zu ihm gesagt hätte (Blatt 13 UA). Wenn der Täter den Zeugen Denshykov in die Irre führen wollte, indem er vorgibt, der " Freund " des Opfers zu sein, so wäre die allgemeine Lebenserfahrung, dass er dabei alles im Rahmen seiner Möglichkeiten unternimmt, dies dem hinzugekommenen Zeugen zu erklären. Der Angeklagte jedenfalls verfügte über die entsprechenden sprachlichen Fähigkeiten dazu, der Täter offensichtlich nicht.Nach dem die Kammer die unter Beweis gestellten Tatsachen als wahr unterstellt hat, war sie verpflichtet, sich mit dem Widerspruch, der sich aus den Sprachkenntnissen des Angeklagten einerseits und den von der Nebenklägerin und dem Zeugen Denshykov geschilderten sprachlichen Unzulänglichkeiten des Täters ergibt, vollständig und schlüssig auseinander zu setzen. Die Kammer hat vielmehr erneut den Versuch unternommen, die zunächst als wahr unterstellten Tatsachen unter Hinweis auf den Besuch eines Deutschkurses zur Verbesserung der Sprachkenntnisse und das mangelnde Verständnis bei der Ansprache in der Fußgängerzone durch die Polizei zu relativieren. Diesem Ansatz ist aber durch die Wahrunterstellung der Boden entzogen.
Zudem verkennt die Kammer in ihren Ausführungen den Umstand, dass es für einen ausländischen Bürger eine außergewöhnliche Situation ist, in der Fußgängerzone völlig unvermittelt von der Polizei mit einem Tatvorwurf, der beim besten Willen nicht zum Grundwortschatz der deutschen Sprache gehört, konfrontiert zu werden. Dass der Angeklagte in der Fußgängerzone den Inhalt und die Bedeutung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht erkannte spricht in keinster Weise gegen die als wahr unterstellte Tatsache, dass der Angeklagte sich umgangsprachlich vollständig und angemessen ausdrücken konnte.Auch in diesem Fall macht die Kammer durch ihre Ausführungen deutlich, dass sie die Beweistatsachen nicht als wahr unterstellt, sondern als bedeutungslos wertet. Die Zurückweisung des Antrags gemäß §244 Absatz 3 Satz 2 am Ende StPO ist rechtsfehlerhaft.c) Das Urteil beruht auch auf diesem Fehler. Auch diesen Umstand hat die Kammer bei der gebotenen Bewertung aller Tatumstände als unbedeutend erachtet und somit eine unvollständige Beweiswürdigung vorgenommen. Für die Verteidigung war auf Grund der Wahrunterstellung auch nicht erkennbar, dass sie hinsichtlich des tatsächlichen Sprachverhaltens des Angeklagten weitere Beweisanträge auf Vernehmung von Bekannten und Freunden des Angeklagten hätte stellen müssen und können. Durch weitere Beweiserhebung wäre belegt worden, dass der Angeklagte in Alltagssituationen ohne Zweifel in der Lage war einfache Sachverhalte in flüssiger und vollständiger Sprache darzulegen. Die Kammer hat die Verteidigung durch die Wahrunterstellung schlichtweg ins Leere laufen lassen, da weitere Beweisanträge zu diesem Thema deswegen nicht mehr gestellt wurden.
6. Gerügt wird die Verletzung des § 244 Absatz 2 StPO
Das Gericht hat seine Aufklärungspflicht (§244 Absatz 2 StPO) dadurch verletzt, dass es von Beweiserhebungen abgesehen hat, die sich nach Lage der Sache aufdrängten.
a) VerfahrenstatsachenDer Zeuge Denshykov wurde am 16.3.05 in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen (Blatt 14 d. Protokollbandes). Im Rahmen der Zeugenvernehmung wurden die Lichtbilder Blatt 22 ff Band 1 der Ermittlungsakte vom Zeugen und allen übrigen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen (Blatt 14 d. Protokollbandes).Die Verteidigung hat zu der Aussage des Zeugen Denshykov eine Erklärung gemäß §257 Absatz 2 StPO abgegeben, welche dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 17.3.05 als Anlage 3 (Blatt 68 des Protokollbandes) beigefügt ist. Darin hat die Verteidigung die Aussage des Zeugen Denshykov, so wie sie von der Verteidigung verstanden wurde, unter anderem wie folgt zusammengefasst:" Der Zeuge hat den Täter über einen nicht unerheblichen Zeitraum in verschiedenen Situationen wahrgenommen.Der Zeuge hat die Lichtverhältnisse am Tatort als ausreichend beschrieben. Seine Beobachtungsmöglichkeit und -fähigkeit hat der Zeuge dadurch belegt, dass er dargestellt hat, dass er die Zeugin Kapinus zu einem späteren Zeitpunkt in den Räumen der Polizei - zwar in Kenntnis dass diese sich dort aufhalten soll - spontan wiedererkannt hat. Der Zeuge hat auch - anders als die Zeugin Kapinus, die sich selbst zum Tatzeitraum als " angetrunken " bzw. " angeheitert " beschrieb - keine Angaben zu einem gegebenenfalls beeinträchtigenden Alkoholkonsum gemacht.Hinsichtlich des Aussehens des Täters hat der Zeuge in der Hauptverhandlung - wie bei seiner polizeilichen Vernehmung (Blatt 48,49 der Akte) - bei Vorlage der Wahllichtbilder erneut auf das Lichtbild mit der Nummer fünf (und vage auch die Nummer drei) hingewiesen. Darüber hinaus hat der Zeuge erklärt, dass auch der Angeklagte mit dem Täter Ähnlichkeit besitzt - aber eben nicht mehr. "Das Gericht führt in den Urteilsgründen unter anderem (Blatt 25 f UA) aus, dass der Zeuge Denshykov " sowohl vor der Kammer als auch bei seiner Aussage vor dem Amtsgericht bekundet (hat), dass der Angeklagte dem Täter ähnlich sehe. Insgesamt hat die Kammer die Aussage des Zeugen Denshykov dahin verstanden, dass dieser auf Grund der schlechten Lichtverhältnisse von vornherein sich außer Stande gesehen hat mehr als eine Ähnlichkeit festzustellen, andererseits er sich nicht in der Lage sah, auf Grund dieser Umstände eine sichere Identifizierung vorzunehmen."In der Begründung der Kammer heißt es weiter: " Die Kammer sieht darin keinen Widerspruch zur Aussage der Nebenklägerin. Denn diese hat den Täter unter anderen, besseren Lichtverhältnissen, nämlich im Bereich des erleuchteten Campus zunächst kennengelernt, demgegenüber der Zeuge Denshykov den Täter in einer dunklen Ecke am Zentralen Hörsaalgebäude getroffen hat. Auch war er nicht nur mit dem Täter sondern auch mit der Person der Nebenklägerin konfrontiert. Schließlich war er auch nicht in der Weise betroffen wie die Nebenklägerin. Aus Sicht der Kammer spricht auch nicht dagegen, dass der Zeuge Denshykov die Nebenklägerin in den Räumen der Polizei später wiedererkannt hat. Hierfür kann sprechen, dass er zum einen dort die Nebenklägerin sofort " einordnen " konnte. Zum anderen ist es aus Sicht der Kammer nichts ungewöhnliches, dass sich in bestimmten Situationen die Gesichter bestimmter Personen besser einprägen als die Gesichter anderer. Schließlich hat der Zeuge Denshykov bei seiner Vernehmung auch keinerlei Stellungnahme dazu abgegeben, dass es sich (mit Sicherheit) bei dem Angeklagten nicht um den Täter handeln würde. "
b) Rechtliche WürdigungDie Aufklärungspflicht des Gerichts reicht so weit, wie die dem Gericht oder wenigstens dem Vorsitzenden aus den Akten, durch Anträge oder Anregungen oder sonst durch den Verfahrensablauf bekannt gewordenen Tatsachen zum Gebrauch von Beweismitteln drängen oder ihm nahe legen (BGHSt 3,169 (175); BGHSt 23,176 (187); BGHSt 30,131 (140)).In den Urteilsgründen hat die Kammer ausgeführt, dass sie den Zeugen Denshykov "dahin verstanden" hat, dass dieser auf Grund der " schlechten Lichtverhältnisse von vornherein sich außer Stande gesehen hat, mehr als eine Ähnlichkeit festzustellen, andererseits er sich nicht in der Lage sah, auf Grund dieser Umstände eine sichere Identifizierung vorzunehmen ". Die Kammer lässt dabei offen, auf Grund welcher Erklärung oder Aussage sie den Zeugen " dahin verstanden " hat. Der Zeuge hat dies nicht gesagt - was die Kammer ja auch nicht behauptet.Der Kammer war angesichts der Erklärung der Verteidigung gemäß § 257 Absatz 2 StPO bekannt, dass nach dem Verständnis der Verteidigung der Zeuge die Lichtverhältnisse am Tatort als ausreichend beschrieben hat. Dies korrespondiert im Übrigen mit den im Rahmen der Zeugenvernehmung des Zeugen Denshykov in Augenschein genommenen Lichtbildern (Bl. 22/23 Bd.1 d.A.). Auf Bild 3 (Bl. 23 d.A) ist rechts im Hintergrund eine Straßenlaterne zu erkennen, die nur teilweise von Bäumen verdeckt ist. Der abgebildete Weg vom Campus führt direkt zu dem auf Blatt 22 abgebildeten Tatort. Es ist zu erwarten, dass dieser Lichtschein den Tatort zumindest erhellt. Auf Bild 4 (Blatt 23) ist der Weg abgebildet, den der Zeuge Denshykov zum Tatort genommen hat. Darauf sind drei Straßenlaternen auf der rechten Bildseite zu erkennen. Die im rechten Vordergrund zu erkennende Straßenlaterne ist keine 10 m von dem auf Bild 2 (Blatt 22) abgebildeten Tatort entfernt. Schließlich ist der Campus - wie die Nebenklägerin berichtet hat - hell erleuchtet, so dass auch dies den Tatort noch schwach beleuchtet. Aufgrund dieser Bilder und der übrigen Umstände war also offenkundig, dass auch der Tatort beleuchtet war.Der Zeuge Denshykov hat dementsprechend seine Beobachtungsmöglichkeit und -fähigkeit auch dadurch belegt, dass er die Nebenklägerin bei der Polizei spontan erkannt hat. Der Einwand der Kammer, dass er die Nebenklägerin dort sofort " einordnen " konnte, geht an dem eigentlichen Problem der Wiedererkennung vorbei, da es ja nicht darum geht, dass der Zeuge Denshykov erklären soll, wo er die Person schon einmal gesehen hat. Dass er die Nebenklägerin erkannt hat, belegt seine in der Hauptverhandlung gemachte Angabe, dass die Lichtverhältnisse ausreichend waren. Nichts anderes ergibt sich schließlich auch aus der Erklärung des Zeugen Denshykov, dass der Angeklagte den Täter ähnlich sehen würde. Die Behauptung der Ähnlichkeit setzt denklogisch voraus, dass der Zeuge Denshykov überhaupt ein Bild vom Täter "vor Augen hat". Und entgegen der von der Kammer vertretenen Ansicht ergibt sich daraus auch, dass der Zeuge Denshykov nach seinem Bild vom Täter den Angeklagten mit Sicherheit nicht für den Täter hält, da er ansonsten nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern eine Übereinstimmung mit seinem Täterbild erklärt hätte.Angesichts der Tatsache, dass zumindest für die Kammer ersichtlich über die Beobachtungsmöglichkeiten des Zeugen Denshykov wegen der ungeklärten Lichtverhältnisse Unsicherheiten bestanden, hätte das Gericht durch eine Augenscheineinnahme im Rahmen eines Ortstermins Beweis über die tatsächlichen Lichtverhältnisse am Tatort zu einer der Tatzeit vergleichbaren Zeit unter Einbeziehung der Nebenklägerin und des Zeugen Denshykov erheben müssen. Dies hätte sich nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens für die Kammer aufdrängen müssen, nachdem der Zeuge Denshykov in seiner Vernehmung die Lichtverhältnisse als ausreichend beschrieb, die Kammer ihn aber nicht " dahin verstanden " hat.Die Aufklärung der tatsächlichen Lichtverhältnisse war für das Verfahren von wesentlicher Bedeutung, da die Kammer aus ungeklärten Gründen davon ausging, dass der Zeuge Denshykov angeblich auf Grund der schlechten Lichtverhältnisse von vornherein sich außer Stande gesehen hat, mehr als eine Ähnlichkeit festzustellen andererseits er sich nicht in der Lage sah, auf Grund dieser Umstände (Hervorhebung durch den Verfasser) eine sichere Identifizierung vorzunehmen. Da der Aussage des Zeugen Denshykov erhebliche Bedeutung in dem Verfahren zukommt, ist die Aufklärung sämtlicher objektiver Umstände unerlässlich. Die allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts gebietet es, von allen zu Gebote stehenden Beweismitteln Gebrauch zu machen, die der Wahrheitsfindung dienen können. An diese Pflicht sind um so höhere Anforderungen zu stellen, je mehr voneinander abweichende Aussagen verschiedener Zeugen vorliegen.
c) Auf diesem Verfahrensfehler beruht das angefochtene Urteil, denn die Augenscheineinnahme der Lichtverhältnisse am Tatort hätte - wäre sie durchgeführt worden - bestätigt, dass die Lichtverhältnisse für ein sicheres Erkennen von Personen ausreichend sind. Das Gericht hätte dann angesichts der Erkenntnis, dass der Zeuge Denshykov den Täter zwar uneingeschränkt erkannt hat aber bei dem Angeklagten lediglich eine Ähnlichkeit mit dem Täter feststellt, nicht allein der Nebenklägerin folgen können, da der Zeuge Denshykov seinerseits über eine genaue und detaillierte Erinnerung bezüglich des Vorfalls verfügt und dabei - anders als die Nebenklägerin – u.a. kein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits haben kann.
7. Gerügt wird die Verletzung des § 244 Absatz 2 StPO
Das Gericht hat seine Aufklärungspflicht (§244 Absatz 2 StPO) dadurch verletzt, dass es von Beweiserhebungen abgesehen hat, die sich nach Lage der Sache aufdrängten.
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung hat in der Hauptverhandlung am 17.3.05 in Bezug auf die Aussage des Zeugen Denshykov in der Hauptverhandlung vom 16.3.05 eine Erklärung gemäß §257 Absatz 2 StPO abgegeben. Die Verteidigung weist in der Erklärung hinsichtlich der Beobachtungsfähigkeit des Zeugen Denshykov darauf hin, dass dieser " anders als die Zeugin Kapinus, die sich selbst zum Tatzeitraum als " angetrunken " bzw. " angeheitert " beschrieb, keine Angaben zu einem gegebenenfalls beeinträchtigenden Alkoholkonsum gemacht hat" (Blatt 69 des Protokollbandes).Das Gericht führt in den Urteilsgründen dazu aus (Blatt 8 f UA):" Die Zeugin Kapinus, die Nebenklägerin, hat bekundet, sie sei in der fraglichen Nacht zusammen mit Freunden unterwegs gewesen. Zunächst habe man eine Zeit im Cheltenham Park zusammengesessen, dort zu viert eine Flasche Wein getrunken, anschließend sei man noch in verschiedenen Gaststätten gewesen, zuletzt in der Diskothek Tangente. Sie habe, davon gehe sie aus, da sie es immer so mache, allenfalls zwei bis drei Getränke zu sich genommen, teilweise auch Bier getrunken. Sie habe sich lediglich ein bisschen angetrunken gefühlt, sich aber noch normal unterhalten können. Sie sei Herr ihrer Sinne gewesen, allerdings wäre sie vorsorglich nicht mehr Auto gefahren. "Bei der Wertung der Aussage der Nebenklägerin kommt das Gericht dann auf die Alkoholisierung der Nebenklägerin wie folgt zurück (Blatt 15UA):" Die Einschätzung, dass die Nebenklägerin bemüht war, Erlebtes wiederzugeben und auch sie Belastendes einzuräumen ergibt sich auch daraus, dass sie freimütig eingeräumt hat, an dem Abend Alkohol zu sich genommen zu haben und sich sogar als leicht angetrunken beschrieben hat. Immerhin hätte aus Sicht der Kammer auch die Möglichkeit bestanden, um die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage nicht zu gefährden, jeglichen Konsum von Alkohol zu verschweigen bzw. diesen zu bagatellisieren. Andererseits sprach die Detaildichte ihrer Aussage zum Beispiel zum Inhalt des Gespräches, zum Tatablauf wie zum Vor - und Nachtatgeschehen dagegen, dass die Nebenklägerin alkoholbedingt in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt war. "
b) Rechtliche WürdigungDie Verteidigung hat für die Kammer erkennbar in der Erklärung gemäß §257 Absatz 2 StPO deutlich darauf hingewiesen, dass bei der Gegenüberstellung der Zeugenaussagen Kapinus und Denshykov die alkoholbedingte Beeinträchtigung der Nebenklägerin zu berücksichtigen ist. Aus Sicht der Verteidigung bestand kein Anlass dafür, auf eine weitere Beweiserhebung hinsichtlich der Alkoholisierung der Zeugin Kapinus hinzuwirken, da diese selbst Angaben zu Alkoholkonsum (" zu viert eine Flasche Wein... sie gehe davon aus, da sie es immer so mache... allenfalls zwei bis drei Getränke... teilweise auch Bier... ") und insbesondere zu der bei ihr gegebenen Alkoholwirkung (" leicht angetrunken ") gemacht hat. Die Verteidigung konnte angesichts der Tatsache, dass zumindest dem Vorsitzenden aus seiner beruflichen Tätigkeit auf Grund der umfangreichen Rechtsprechung zu § 316 StGB (relative Fahruntüchtigkeit ab 0,3 Promille) vertraut ist, dass auch bei geringer Alkoholisierung nicht nur die Reaktions- sondern auch die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt ist, darauf vertrauen, dass die Kammer diese Beeinträchtigung der Nebenklägerin bei der Bewertung der Wahrnehmungssituation und des Wiedererkennungswertes berücksichtigt.Darüber hinaus konnte die Verteidigung aus den dargestellten Gründen davon ausgehen, dass dabei zumindest dem Vorsitzenden die Unzuverlässigkeit eigener Einschätzung der Betroffenen zum Alkoholisierungsgrad und Umfang des tatsächlichen Alkoholkonsums bekannt ist und die Wahrnehmung alkoholischer Beeinträchtigung beim Betroffenen selbst regelmäßig mehr als nur eine geringe Alkoholisierung voraussetzt. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass der Betroffene selbst trotz vorhandener Alkoholisierung meint, noch alles steuern zu können ("... Sie habe sich lediglich ein bisschen angetrunken gefühlt, sich aber noch normal unterhalten können. Sie sei Herr ihrer Sinne gewesen, allerdings wäre sie vorsorglich nicht mehr Auto gefahren "; Blatt 8 UA). Da das Gericht vor dem Hintergrund dieses zweifelsohne bekannten Wissens auf diesen Umstand bei der Bewertung der Wahrnehmungsmöglichkeit der Zeugin Kapinus in den Urteilsgründen nicht eingeht, war für die Verteidigung unvorhersehbar.In völlig unerklärlicher und unzulässiger Art und Weise rechnet es die Kammer in vollständiger Verkennung der Wahrheitspflichten eines jeden Zeugen der Nebenklägerin sogar noch als Indiz für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben an, dass diese " freimütig eingeräumt hat, an dem Abend Alkohol zu sich genommen zu haben und sich sogar als leicht angetrunken beschrieben hat " wo doch -nach Ansicht der Kammer- " immerhin auch die Möglichkeit bestanden (hätte) um die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage nicht zu gefährden, jeglichen Konsum von Alkohol zu verschweigen bzw. diesen zu bagatellisieren. " (Blatt 15 UA).Wenn die Kammer aber angesichts der Aussage der Nebenklägerin feststellt, dass diese leicht angetrunken war, so hätte das Gericht ein Sachverständigengutachten einholen müssen, wenn es denn bei der gegebenen Alkoholisierung eine allgemein anerkannte Minderung der Reaktions- und Wahrnehmungsfähigkeit ausschließen und den Umstand der Alkoholisierung bei der Würdigung der Umstände keine Bedeutung beimessen wollte, wie sie es in den Urteilsgründen getan hat.
c) Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil. Die Feststellungen eines Sachverständigen auf der Grundlage der von der Nebenklägerin selbst dargestellten Alkoholisierung hätten ergeben, dass selbst bei dem festgestellten geringen Alkoholisierungsgrad die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Dies hätte auch Rückschlüsse auf die von der Nebenklägerin behauptete Wiedererkennung insoweit zugelassen, als dass eine überdurchschnittliche Fehlerhaftigkeit zumindest nicht auszuschließen wäre. Nicht nur in der Gesamtschau mit allen weiteren Umständen der Tat wäre eine Verurteilung des Angeklagten bei Aufklärung der alkoholbedingten Wahrnehmungsverluste nicht möglich gewesen.
8. Gerügt wird die Verletzung des § 24 Absatz 1, Absatz 2 StPO
a) VerfahrenstatsachenDie Verteidigung hatte in der Hauptverhandlung vom 15.3.05 einen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung gestellt. Der Aussetzungsantrag wurde durch Beschluss des Gerichts am gleichen Verhandlungstag mit folgenden Gründen zurückgewiesen (Anlage 2 zum Hauptverhandlungsprotokoll; Blatt 10 des Protokollbandes):
4 Ns 636/04
Beschluss
Die Anträge v. 15.03.2005 auf Aussetzung des Verfahrens und auf Aufhebung des Haftbefehls werden zurückgewiesen.
Die in dem schriftlichen Antrag mitgeteilten Tatsachen sind nur insofern neu als dass dort von einer Wahllichtbildvorlage mit der in dem weiteren Ermittlungsverfahren genannten Geschädigten Müller durchgeführt wurde und diese zu dem Ergebnis führte, dass diese den in jenem Verfahren ebenfalls als Beschuldigten geführten Angeklagten mit Sicherheit nicht wiedererkannt hat. Die weiteren Tatsachen, insbesondere zu dem ähnlichen modus poerandi und Täterverhalten waren bereits Gegenstand des vorliegenden Ermittlungsverfahrens. Insoweit geht die Kammer derzeit davon aus, dass über die in dem Antrag genannten Tatsachen hinaus sich aus jenem Ermittlungsverfahren keine weiteren Erkenntnisse ergeben. Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer keine Veranlassung, die Hauptverhandlung für heute auszusetzen. Vielmehr können sowohl dem Angeklagten als auch der Zeugin Kapinus entsprechend den im Antrag mitgeteilten Tatsachen Vorhalte gemacht werden. Die Kammer sieht es als ausreichend an, die genannten Akten beizuziehen und auf mögliche weitere Ermittlungsansätze zu überprüfen, wobei diese noch rechtzeitig vor Abschluss in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. Vorsorglich ist beabsichtigt, die Zeugin Kapinus für die Folgetage erneut vorzuladen.
Der Haftbefehl ist nicht aufzuheben bzw. außer Vollzug zu setzen, da durch die heute neu mitgeteilten Tatsachen der dringende Tatverdacht nicht ausgeräumt ist. Ein möglicher ähnlicher modus operandi bei gleichzeitigem Ausschluss des Angeklagten in dem anderen Ermittlungsverfahren läßt keine zwingenden Schlüsse auf das hiesige Verfahren zu. Auch unter Würdigung dieser neuen Tatsachen hält die Kammer nach derzeitigem Sachstand den dringenden Tatverdacht für gegeben.
Nach Verkündung des Beschlusses kündigte die Verteidigung einen Befangenheitsantrag an und bat insoweit um eine weitere Unterbrechung von 40 Minuten (Blatt 4 des Protokollbandes).Es erging dann in der Hauptverhandlung nur noch die Entscheidung des Vorsitzenden, dass " die heutige Hauptverhandlung unterbrochen wird " (Blatt 4 des Protokollbandes). Zu Beginn der nachfolgenden Hauptverhandlung am 16.3.05 stellte die Verteidigung den angekündigten Befangenheitsantrag (Blatt 11 des Protokollbandes). Die Verteidigung führt darin aus (Anlage 1 zum Hauptverhandlungsprotokoll; Blatt 18 des Protokollbandes):
Ahrens & HilleRechtsanwälte
RAe Ahrens & Hille • Reinhäuser Landstr. 16 • 37083 GöttingenLandgericht GöttingenBerliner Str. 837083 Göttingen
Jürgen AhrensFachanwalt für StrafrechtOliver Hille Fachanwalt für StrafrechtNina Jüttner Rechtsanwälte
Reinhäuser Landstr. 16 37083 Göttingen
Tel: (0551) 70 71 50Fax: (0551) 70 71 51 5Email: RAe.Ahrens@t-online.deWEB: www.rechtsanwaelte-ahrens.de
Sparkasse Göttingen BLZ: 260 500 01 KTO: 432 067 88UstNr.: 20/235/75006Göttingen, 16.03.2005
In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 -
lehne ich namens und in Vollmacht des Angeklagten
Herrn Richter am Landgericht Dr. Wintgen wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
Begründung: Der Unterzeichner hat in der Hauptverhandlung vom 15.03.2005 einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens und in diesem Zusammenhang einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls gestellt. Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens war damit begründet, dass eine für das Verfahren wesentliche Akte bislang im Verfahren nicht beigezogen worden ist und dies aber für die Durchführung der Hauptverhandlung unerlässlich ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Ausführungen im Antrag des Unterzeichners vom 15.03.2005, welcher als Anlage zu den Akten gereicht wurde, Bezug genommen.
Glaubhaftmachung: Antrag vom 15.03.2005 als Anlage 1.
Sodann hat Herr Richter am Landgericht Herr Dr. Wintgen den Beschluss verlesen, mit dem die Anträge des Unterzeichners unter anderem mit folgender Begründung zurückgewiesen wurden:
„Die in dem schriftlichen Antrag mitgeteilten Tatsachen sind nur insofern neu, als dass dort von einer Wahllichtbildvorlage mit der in dem weiteren Ermittlungsverfahren genannten Geschädigten Müller durchgeführt wurde und diese zu dem Ergebnis führte, dass diese den in jenem Verfahren ebenfalls als Beschuldigten geführten Angeklagten mit Sicherheit nicht wieder erkannt hat. Die weiteren Tatsachen, insbesondere zu dem ähnlichen modus operandi und Täterverhalten waren bereits Gegenstand des vorligenden Ermittlungsverfahrens.“
Glaubhaftmachung: 1. Beschluss vom 15.03.2005 als Anlage 2. 2. Dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters Herrn, Dr. Wintgen.
Zunächst ist unabhängig von der Tatsache, dass die Ausführungen im verlesenen Beschluss sachlich unzutreffend sind – darauf wird weiter unten einzugehen sein –, festzustellen, dass der Vorsitzende in der Begründung ohne eigene Überprüfung des Akteninhaltes unterstellt, dass im schriftlichen Antrag des Unterzeichners sämtliche für das Verfahren relevanten Tatsachen aus dem Ermittlungsverfahren „Müller“ mitgeteilt seien. Der Vorsitzende hat in der Begründung insoweit nicht einmal die Einsicht an der Notwendigkeit erkennen lassen, vor Beginn der Beweisaufnahme die Akte in Augenschein zu nehmen und dies selbst zu prüfen. Nicht anders können die Ausführungen im Beschluss verstanden werden, dass „sowohl dem Angeklagten als auch der Zeugin Kapinus entsprechend den im Antrag mitgeteilten Tatsachen Vorhalte gemacht werden“ können.
Der Beschluss ist auch sachlich unzutreffend, wie sich aus einem Vergleich des Antrags des Unterzeichners mit dem bislang aktenkundigen Vermerk der Sachbearbeiterin Frau Fülle (Blatt 39 der Akte) ergibt.
Aus dem Vermerk der Polizeibeamtin Fülle ergibt sich nicht, dass das Verfahren in der Sache " zum Nachteil Nadine Müller " konkret gegen Herrn Tivay geführt wurde. Diese Tatsache ist neu.
Genauso neu ist der Umstand, dass Herr Tivay weder über das Verfahren an sich informiert wurde noch die Gelegenheit hatte, als Beschuldigter zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Nur am Rande sei erwähnt, dass dem Vorsitzenden in der Berufungsverhandlung bei der Verlesung des Beschlusses weder das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens noch die Begründung dieses Ergebnisses bekannt ist.
Neu ist, dass der Täter in der Sache " Nadine Müller " genauso wie im vorliegenden Fall versucht hat, dem Opfer den Mund zu zu halten.
Neu ist auch, dass die betroffene Nadine Müller auch Angaben zur Sprache und den Äußerungen des Täters gemacht hat, die für das Verfahren von wesentlicher Bedeutung sind.
Vor allen Dingen ist aber gegenüber dem Informationsstand aus dem Vermerk Blatt 39 der Akte neu, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Täter gibt, der eine identische Tat genau eine Woche später begangen hatte, der mit Sicherheit nicht Herr Tivay ist, diesem aber so ähnlich sieht, dass die Zeugin Müller im Rahmen der Wahllichtbildvorlage unter Bezugnahme auf das Bild des Herrn Tivay dies ausdrücklich angesprochen hat.
Zu all diesen neuen Informationen und Fakten sagt entgegen der vom Richter am Landgericht Herrn Dr. Wintgen verlesenen Auffassung der Vermerk Blatt 39 der Akte - und im Übrigen auch der Rest der vorliegenden Ermittlungsakte - nichts.Glaubhaftmachung: 1. anwaltliche Versicherung des Unterzeichners,2. Blatt 39 der Ermittlungsakte 4 Ns 636/04 Anlage 3,3. dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters am Landgericht Dr. Wintgen.
Die sich aus der beizuziehenden Akte ergebenden neuen Informationen gehen also weit über die bisher bekannten Umstände hinaus.
Zweifelsohne hätte der Vorsitzende dies bei der gebotenen Anstrengung und Prüfung selbst feststellen können. Die Beschränkung der Wahrnehmung und Wiedergabe der Unterschiede zwischen dem Vermerk Blatt 39 und den Ausführungen im Aussetzungsantrag zum Inhalt der beizuziehenden Akte begründet für den Angeklagten die Befürchtung, dass es hier an der notwendigen Unparteilichkeit fehlt. Die benannten neuen Tatsachen sind bei objektiver Betrachtung offensichtlich für das Verfahren von Bedeutung. Die Weigerung der rechtzeitigen Kenntnisnahme - also vor Beginn der Beweisaufnahme – ist für den Angeklagten nicht nachvollziehbar.
Die vom Vorsitzenden verlesene Vorstellung, es sei ausreichend, die benannten Akten beizuziehen " und auf mögliche weitere Ermittlungsansätze zu prüfen " - diese Möglichkeit sieht letztlich auch der Vorsitzende selbst - ist grob unsachlich und erweckt beim Angeklagten den Eindruck, der Vorsitzende sei nicht daran interessiert sämtliche vorhandenen Tat - und Täterrelevanten Ermittlungen zur Kenntnis zu nehmen, bevor in die Beweisaufnahme eingestiegen wird. So können zum Beispiel ohne Kenntnis der Akte Darstellungen des Angeklagten und Fragen des Unterzeichners an Zeugen, die Bezug auf Inhalte der dem Unterzeichner bekannten beizuziehenden Akte nehmen, weder in ihrem Sinn noch in ihrer Zielrichtung von den übrigen Verfahrensbeteiligten - insbesondere auch vom Vorsitzenden - nicht vollständig verstanden werden. Eine Zeugenbefragung ist aber nicht zuletzt auf Grund des aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatzes resultierenden Bemühungen um Authentizität nicht beliebig wiederholbar. Die vom Vorsitzenden verlesene Vorstellung, " vorsorglich..., die Zeugin Kapinus für die Folgetage erneut vorzuladen " kann bei verständiger Würdigung den möglichen Verlust eines " ersten Eindrucks vom Zeugen " nicht heilen.
Die Besorgungen der Befangenheit ergibt sich schließlich auch aus der falschen, einseitigen Wertung des Ermittlungsergebnisses des Verfahrens " Nadine Müller ", wenn der Vorsitzende in der Begründung der Entscheidung ausführt, das vorgetragene Tatsachen nur insoweit neu seien, als dass die Geschädigte Müller " den in jenem Verfahren ebenfalls als Beschuldigten geführten Angeklagten mit Sicherheit nicht in wieder erkannt hat ". Aus der Sprachwahl im Beschluss (" wieder erkannt ") kann sich für den Angeklagten nur ergeben, dass in der Begründung des Beschlusses zunächst ein ursprüngliches erkennen " des dem in jenem Verfahren ebenfalls als Beschuldigten geführten Angeklagten " unterstellt wird, da anderenfalls ein " Wiedererkennen " nicht erwartet werden kann bzw. logisch keinen Sinn macht.
In höchstem Maße bemerkenswert ist dabei, das aber schon die Behauptung in der vom Vorsitzenden verlesenen Begründung an sich schlichtweg falsch ist, weil die Zeugin Müller überhaupt nicht erklärt hat, sie würde den Angeklagten als Täter nicht wieder erkennen. Sie hat eindeutig festgestellt, dass dieser mit Sicherheit nicht der Täter ist. Der Vorsitzende geht in der von ihm vorgetragenen Begründung zum Nachteil des Angeklagten fehl in der Annahme, dass die Zeugin Müller den Täter nur nicht wieder erkannt habe, anstatt fest zu stellen, dass sie den Angeklagten als Täter der identischen Tat ausgeschlossen hat. Die vom Vorsitzenden verlesene Begründung ist somit falsch, grob unsachlich und begründet daher aus Sicht des Angeklagten die Befürchtung, dass der Vorsitzende zwar belastende Momente - die sich aus den Ermittlungen in der Sache " Nadine Müller " eben nicht ergeben - nicht aber für den Angeklagten entlastende Aspekte wahrnehmen will oder kann. Bei objektiver Betrachtung fällt der sachliche Unterschied und die völlig gegensätzliche Wertung des Ermittlungsergebnisses jeden unvoreingenommenen Betrachter ins Auge.
Schließlich überspannt der Vorsitzende in der von ihm vorgetragenen Begründung des Beschlusses die rechtlichen Anforderungen an die Ausräumung des dringenden Tatverdachts im Hinblick auf den Haftbefehl. Entgegen der Darstellung in der Begründung braucht es " keine zwingenden Schlüsse " einen dringenden Tatverdacht auszuräumen. Die Begründung des ablehnenden Beschlusses hätte sich vielmehr mit der Frage auseinander setzen müssen, inwieweit durch den deutlichen Hinweis auf einen möglichen Irrtum der Zeugin Kapinus bei der Wiedererkennung eines Täters der dringende Tatverdacht entfallen kann. Durch die Forderung nach " zwingenden Schlüssen " entsteht beim Angeklagten in begründeter Art und Weise der Eindruck, dass für die Aufhebung des Haftbefehls die gleichen Maßstäbe wie für das Erreichen eines Freispruchs gelten und im Übrigen er unabhängig vom Zweifelsgrundsatz seine Unschuld beweisen muss.
Zur Glaubhaftmachung der dargestellten Inhalte des Aussetzungs - und Haftprüfungsantrags sowie des vom Vorsitzenden verlesenen, ablehnenden Beschlusses wird ausdrücklich auf die Anlagen 1 und 2 zu diesem Antrag, die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters am Landgericht Dr. Wintgen sowie die anwaltliche Versicherung des Unterzeichners Bezug genommen.
Ich beantrage ferner,
1. die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters am Landgericht Dr. Wintgen vor einer Entscheidung über das Ablehnungsgesuch mehr zugänglich zu machen,2. meinem Mandanten die Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen.3. meinem Mandanten die er zur Mitwirkung bei der Entscheidung über den Ablehnungsfront berufenen Gerichtspersonen namhaft zu machen, §24 Absatz 3 Satz 2 StPO.
Oliver Hille Rechtsanwalt
Nach Beratung verkündete die Kammer den Beschluss die Hauptverhandlung gemäß § 29 Absatz 2 StPO fortzusetzen, bis eine Entscheidung über die Ablehnung ohne Verzögerung der Hauptverhandlung möglich ist (Blatt 12 des Protokollbandes).Der Verteidigung wurde die dienstliche Erklärung des Vorsitzenden am 16.3.05 um 15:21 Uhr per Fax unter Fristsetzung zur Stellungnahme bis zum 17.3. 2.005,10 Uhr, übersandt (Blatt 98 bis 100, Band 2 der Ermittlungsakte). Der Vorsitzende führte darin aus:" Aus meiner Sicht haben die vorgetragenen Gründe die prozessuale Situation nicht so verändert, dass eine Aussetzung des Verfahrens oder eine Aufhebung des Haftbefehls in Betracht kam. Wie sich aus dem Beschluss der Kammer ergibt, sollten Erkenntnisse in dem weiteren Ermittlungsverfahren ausgewertet und gegebenenfalls in dieses Verfahren eingeführt werden. "
Die Verteidigung nahm zu der Erklärung des Vorsitzenden unter dem 17.3.05 die folgt Stellung (Blatt 101, Band 2 der Ermittlungsakte):
Ahrens & HilleRechtsanwälte
RAe Ahrens & Hille • Reinhäuser Landstr. 16 • 37083 GöttingenLandgericht GöttingenBerliner Str. 837083 Göttingen
Jürgen AhrensFachanwalt für StrafrechtOliver Hille Fachanwalt für StrafrechtNina Jüttner Rechtsanwälte
Reinhäuser Landstr. 16 37083 Göttingen
Tel: (0551) 70 71 50Fax: (0551) 70 71 51 5Email: RAe.Ahrens@t-online.deWEB: www.rechtsanwaelte-ahrens.de
Sparkasse Göttingen BLZ: 260 500 01 KTO: 432 067 88UstNr.: 20/235/75006Göttingen, 17.03.2005
In der Strafsache
g e g e n
Tivay, Maziar
- 4 Ns 636/04 -
nehme ich zu der dienstlichen Äußerung des Richters am Landgericht Dr. Wintgen wie folgt Stellung: Die Äußerung geht nach hiesiger Ansicht am Kern des Geschehens vorbei, da es sich aus dem Beschluss, welchen Herr Dr. Wintgen verlesen hat, ergibt, dass dieser den Sachverhalt nur unvollständig und teilweise zum Nachteil des Angeklagten falsch verstanden bzw. ohne eigene Prüfung gedeutet hat.
Dementsprechend vermag die Äußerung, die prozessuale Situation habe sich nicht so verändert, dass eine Aussetzung des Verfahrens in Betracht kam, nicht zu überzeugen, da die tatsächliche Tragweite und der tatsächliche Umfang der Änderung gar nicht wahrgenommen wurde.
Im übrigen räumt die dienstliche Äußerung die darüber hinaus gerügten Mängel des von Herrn Richter am Landgericht Dr. Wintgen verlesenen Beschlusses nicht aus.
Oliver HilleRechtsanwalt
In der Hauptverhandlung vom 17.3.05 wurde den Verfahrensbeteiligten dann der nachfolgende Beschluss der 4. Kleinen Strafkammer zum Befangenheitsantrag (Blatt 56 des Protokollbandes; Blatt 103 bis 105 Band 2 der Ermittlungsakte) mitgeteilt:
b) Rechtliche WürdigungAn dem angefochtenen Urteil hat der Vorsitzende trotz Ablehnung mitgewirkt. Das Ablehnungsgesuch der Verteidigung wurde zu Unrecht als unbegründet zurückgewiesen.Die in dem Befangenheitsantrag dargestellten Gründe waren geeignet, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu begründen. Ein solches Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters ist gerecht fertigt, wenn der ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der oder die abgelehnten Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnehmen, die ihre Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (Meyer - Goßner, 47. Auflage, §24 StPO, Rdnr. 8 m.w.N.) .Dabei kann auch das Verhalten des Richters während der Hauptverhandlung die Ablehnung begründen, wenn es besorgen lässt, dass er nicht unvoreingenommenen an die Sache herangeht, insbesondere von der Schuld des Angeklagten bereits endgültig überzeugt ist (BGH NStZ 99,629; 03, 99). Eine solche Einstellung kann sich aus Erklärungen des Richters in der Hauptverhandlung als auch aus seiner Verhandlungsführung ergeben.Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes ist dabei grundsätzlich vom Standpunkt des Ablehnenden aus zu beurteilen. Ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist, spielt daher keine Rolle (BVerfGE 20,9,14; BGH StrVert 88,417).Maßgebend für die Beurteilung sind dabei allerdings nicht der subjektive Eindruck und die gegebenenfalls unzutreffenden Vorstellungen des Ablehnenden vom Sachverhalt, sondern einzig und allein der Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten und die Vorstellungen, die sich ein geistig gesunder, bei voller Vernunft befindlicher Prozessbeteiligter bei der ihm zumutbaren ruhigen Prüfung der Sachlage machen kann (BGH NJW 68,2297).Der Befangenheitsantrag des Ablehnenden bezieht sich im vorliegenden Fall sowohl auf den Inhalt einer Erklärung des Vorsitzenden als auch auf seine Verhandlungsführung.Hinsichtlich der Verhandlungsführung ist der in dem zurückweisenden Beschluss der 4. Kleinen Strafkammer (Blatt 103,104 Band 2 der Ermittlungsakte) vertretenen Rechtsauffassung zumindest insoweit zu folgen, als dass allein die Mitwirkung an Zwischenentscheidungen in einem anhängigen Verfahren und die in solchen Entscheidungen geäußerten Rechtsmeinungen in der Regel die Ablehnung nicht rechtfertigen. Dies findet jedoch seine Grenze, wenn durch die Verhandlungsführung der Anschein der Willkür erweckt wird (Meyer – Goßner,a.a.O.;Rdnr. 14 m.w.N.). Maßgebend für die Frage, ob ein solcher Fall vorliegt er, ist der Standpunkt eines - oben näher definierten - vernünftigen Angeklagten. Die Besorgnis der Befangenheit ergibt sich vorliegend nicht aus dem Umstand, dass der Vorsitzende sich hinsichtlich der sich aus der beizuziehenden Ermittlungsakte " Müller " ergebenden neuen Informationen in einem tatsächlichen Irrtum befand. Dies mag unbedeutend sein. Es kann an dieser Stelle auch unberücksichtigt bleiben, dass die Ablehnung des Aussetzungsantrages rechtsfehlerhaft war. Entscheidend ist aber, dass der Vorsitzende die Kenntnisnahme des Akteninhalts vor Entscheidung über den Aussetzungsantrag verweigerte, die Beiziehung der Akte lediglich in Aussicht stellte und damit in Kauf nahm, dass in der Hauptverhandlung gegenüber Verfahrensbeteiligten Vorhalte aus einem Ermittlungsverfahren gemacht werden, von dessen Existenz und Inhalt der Angeklagte nichts wusste und in dem ihm rechtliches Gehör nicht gewährt worden war. Insbesondere die Feststellung, dass in einem identischen Fall, welcher auch noch in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der angeklagten Tat steht, das Opfer den Angeklagten mit Sicherheit als Täter ausgeschlossen hat, machte deutlich, dass aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten im Rahmen einer zumutbaren ruhigen Prüfung der Sachlage die Kenntnisnahme und Überprüfung der beizuziehenden Ermittlungsakte vor Einstieg in die Beweisaufnahme unter dem Aspekt eines fair trials geboten war. Die vom Vorsitzenden vertretene Auffassung, zunächst einmal mit der Beweisaufnahme zu beginnen und die benannten Akten im weiteren Verlauf des Verfahrens beizuziehen " und auf mögliche weitere Ermittlungsansätze zu prüfen " beschreibt offensichtlich den strafprozessualen Grundsatz, dem Angeklagten vollumfänglich rechtliches Gehör zu gewähren, bevor gegen ihn verhandelt wird. Aus dem Befangenheitsantrag war dem Vorsitzenden bekannt, dass zwar der Verteidiger Kenntnis vom Inhalt der beizuziehenden Akte hatte. Aus dem Aussetzungsantrag vom 15.3.05 (Blatt 28 des Protokollbandes) war dem Vorsitzenden darüber hinaus aber auch bekannt, dass der Angeklagte " weder Kenntnis von diesem Verfahren (hatte) noch... ihm als Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben " worden war. Die Weigerung der Verteidigung durch eine Aussetzung - oder Unterbrechung - Gelegenheit zu geben, den Angeklagten über den Inhalt des beizuziehenden Ermittlungsverfahrens zu unterrichten stellt sich insoweit als ein unzulässiger und grob unsachlicher Versuch dar, dem Angeklagten das Ergebnis weiterer Ermittlungen zunächst unzugänglich zu machen. Dieses Verhalten ist geeignet, die Besorgnis der Befangenheit gegen den Vorsitzenden zu begründen (BGH StrVert 95,396).Der von der Verteidigung in dem Befangenheitsantrag angesprochene Verlust eines ersten Eindrucks vom Zeugen kann angesichts des entlastenden Inhalts der beizuziehenden Akte auch aus Sicht eines unbeteiligten Dritten nur zu Lasten des Angeklagten gehen. Aus seiner Äußerung, " vorsorglich die Zeugin Kapinus für die Folgetage erneut vorzuladen " ergibt sich auch vom Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten, dass der Vorsitzende eine schnelle Sacherledigung einer sachgerechten Aufklärung vorzieht. Auch dies begründet nachhaltig die Besorgnis der Befangenheit gegen den Vorsitzenden (BGH StrVert 03, 369).Die Besorgnis der Befangenheit gegen den Vorsitzenden ergibt sich schließlich auch bei Anlegung eines strengen Maßstabes aus der Formulierung des Vorsitzenden, das nach seiner Ansicht die Geschädigte Müller " den in jenem Verfahren ebenfalls als Beschuldigten geführten Angeklagten mit Sicherheit nicht wiedererkannt hat " (Blatt 29 des Protokollbandes). Aus dieser Äußerung konnte der Angeklagte auch bei Anlegung der aufgezeigten Maßstäbe berechtigterweise die Befürchtung ableiten, der Vorsitzende habe zu diesem Zeitpunkt sich bereits innerlich darauf festgelegt, dass er, der Angeklagte, auch der Täter der Tat zum Nachteil der Nadine Müller gewesen sei, der lediglich das Glück gehabt habe, dass diese ihn nicht wiedererkannt hat. Daran vermag auch die Erklärung im Beschluss der 4. Strafkammer, " dass benutzte Wort " Wiedererkennen " sei ein in dem aufgeführten Zusammenhang üblicherweise gebrauchter Terminus, ohne dass damit von vornherein unterstellt würde, dass jemand bereits einmal erkannt worden ist" (Bl. 105 Band 2 d.A.) nichts ändern. Es ist schlichtweg falsch, dass der Begriff " Wiedererkennen " oder eben " nicht Wiedererkennen " vom Sinngehalt mit der tatsächlichen Erklärung der Zeugin Nadine Müller, der Angeklagte sei mit Sicherheit nicht der Täter, gleichzusetzen ist. Es wird auch nicht " üblicherweise in dem aufgeführten Zusammenhang " davon gesprochen, dass bei einer Wahllichtbildvorlage ein Zeuge jemanden " nicht wiedererkannt " hat, wenn er denn erklärt hat, dass " dies mit Sicherheit nicht der Täter ist ". Dies sind inhaltlich zwei grundlegend verschiedene Stellungnahmen. Die Erklärung, „ich habe den Täter nicht wiedererkannt“ bedeutet, dass es dem Betrachter nicht gelungen ist, ein in seinem Gedächnis abgespeichertes Bild mit einem ihm später vorgelegten Bild in Einklang zu bringen. Demgegenüber bedeutet die Erklärung „er ist mit Sicherheit nicht der Täter“, dass es dem Betrachter gelungen ist, dass in seinem Gedächnis abgespeicherte Bild mit den ihm vorgelegten Bildern abzugleichen und eine Identität auszuschließen. Überdeutlich – auch für einen ruhigen, vernünftigen und unbefangenen Dritten – wird der Unterschied am folgenden Beispiel deutlich: Wenn jemand einen Freund nach einiger Zeit wiedertrifft und diesem sagt: „Mensch, ich habe Dich gar nicht wiedererkannt!“, so meint er damit nicht „Du bist mit Sicherheit nicht der, den ich mal kannte“.
Entgegen der in dem Beschluss vertretenen Auffassung sind die Stellungnahmen auch grammatikalisch korrekt, haben aber eben den dargestellten völlig unterschiedlichen Sinn. Letztlich kommt es auch nicht darauf an, was der Vorsitzende selbst damit vielleicht meinte, als er feststellte, dass die Zeugin Müller den Angeklagten nicht wiedererkannt habe. In seiner dienstlichen Erklärung vom 16.3.05 (Bl 99, Bd 2 d. A.) gibt er einen sprachlichen Irrtum jedenfalls auch selbst nicht an. Entscheidend ist, dass die Erklärung nur in ihrem tatsächlichen Sinngehalt vom Angeklagten verstanden werden konnte und eine vielleicht davon abweichende Vorstellung des Vorsitzenden jedenfalls nicht erkennbar war. Aus Sicht eines unbeteiligten Dritten lässt die Wortwahl des Vorsitzenden nur die innere Haltung erkennen, dass er davon ausgeht, dass die Zeugin Nadine Müller den Angeklagten als Täter nicht wiedererkannt hat. Dass der Vorsitzende den tatsächlichen Sinngehalt der Aussage der Zeugin Müller wahrgenommen und akzeptiert hat, ist aus seinen Äußerungen nicht zu ersehen.
Die Besorgnis der Befangenheit war daher begründet.
II. Sachrüge
Die Sachrüge wird zunächst in allgemeiner Form erhoben.
Ohne dass die allgemein erhobene Sachrüge dadurch im Übrigen beschränkt werden soll, wird die Sachrüge zu folgenden Punkten weiter ausgeführt:
Gerügt wird die Verletzung des § 261 StPO.Die Kammer hat die Überzeugung, Herr Maziar Tivay habe mit der Nebenklägerin, der Zeugin Kapinus, in der Nacht vom 13. auf den 14.8.03," den Geschlechtsverkehr vollziehen wollen und hierzu unmittelbar angesetzt " (Blatt 29 UA) allein auf Grund der Aussage der Nebenklägerin, der Zeugin Kapinus, gewonnen.Weder die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung noch die vorangegangenen Ermittlungen haben einen einzigen weiteren Anhaltspunkt dafür ergeben, dass der Angeklagte der Täter war. Dabei muss bei der Überprüfung der tatrichterlichen Würdigung deutlich zwischen den Feststellungen zum Tatablauf an sich und den Feststellungen zu der behaupteten Wiedererkennung unterschieden werden.Die Tat an sich, deren räumlich-zeitlicher und situativer Ablauf, ist von der Kammer im Einzelnen festgestellt und in den Urteilsgründen umfangreich dargestellt. Während aber für den Tatablauf zumindest ab dem Zeitpunkt der Unterbrechung bis zur Beendigung der Zeuge Denshykov als weiteres Beweismittel zur Verfügung steht, fehlt es hinsichtlich des von der Nebenklägerin behaupteten Wiedererkennens an jeglichen über die Behauptung der Nebenklägerin hinausgehenden Beweismitteln. Weder für die angebliche Wiedererkennungssituation in der Mensa der Universität noch für das angeblich zweite Treffen in der Cafeteria der Universität sind Zeugen oder andere Beweismittel vorhanden. Die Nebenklägerin hat für diese Vorfälle weder direkte Zeugen benannt noch erklärt, dass sie von dieser doch beachtlichen " Entdeckung " Dritten irgendetwas erzählt hat. Die Nebenklägerin hat in der Hauptverhandlung (und auch in ihrem Gedächtnisprotokoll vom 18.11.03 (Bl.51 Bd.1d.A.))lediglich dargelegt, dass sie sich an die ermittelnde Polizeibeamtin Frau Fülle gewandt und sich bei dieser nach einer weiteren möglichen Vorgehensweise erkundigt hatte. Erst bei einem dritten Treffen in der Göttinger Innenstadt waren dann weitere Zeugen zugegen. Zu spontanen Reaktionen der Nebenklägerin und Eindrücken wie z.B. Betroffenheit, Irritation oder ähnlichen im Moment des behaupteten ersten Wiedererkennens sind aber eben keine Feststellungen getroffen worden. Die Zeuginnen Sinning und Schneider sowie der Polizeiobermeister Horst können dazu keine Angaben machen, da sie lediglich das nach Angaben der Nebenklägerin dritte Treffen miterlebt hatten und dabei mit einer schon entschlossenen Nebenklägerin konfrontiert wurden. Insoweit stellt sich die Behauptung der Nebenklägerin, in dem Angeklagten den Täter wiedererkannt zu haben, als eine alleinstehende Aussage dar. Dieser steht die klare und eindeutige Aussage des Angeklagten, er sei nicht der Täter, entgegen.Für das Gericht Bestand als so in Bezug auf die Wiedererkennung eine Aussage gegen Aussage Situation.
Anerkanntermaßen ist das Tat Gericht nicht schon auf Grund des Zweifelssatzes an der Verurteilung gehindert, auch wenn außer den Angaben des Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen (BGH Urteil vom 21.8.02; 1 StR 129/02; BGH NStZ - RR 03, 333).Wenn aber Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen beziehungsweise eine lückenlose Gesamtwürdigung aller Indizien vorgenommen hat (unter anderem BGH StrVert 93,176; StrVert 03, 543; StrVert 04, 58).Die Situation Aussage gegen Aussage macht also eine besondere Glaubhaftigkeitsprüfung, eine Gesamtabwägung aller relevanten Umstände erforderlich. Allein die Stellung als Geschädigter bringt dabei für sich keinen Vorsprung an Glaubhaftigkeit mit sich (BGH NStZ 04,635). Auch an die Abfassung der Urteilsgründe werden beim Vorliegen dieser Beweislage besondere Anforderungen gestellt. Sie betreffen zum einen die Darstellung des zur Beweiswürdigung herangezogenen Materials und zum anderen die Begründung der Überzeugungsbildung. Es besteht also eine erhöhte Darlegungs- und Begründungspflicht, deren Einhaltung auf die Sachrüge hin überprüft wird.Dabei ist der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, wonach bei schwierigen Beweissituationen wie Aussage gegen Aussage auch von Verfassungswegen erhöhte Anforderungen an die Darlegungspflichten gegeben sind (BVerfG NJW 2003, 2444, 2445), wobei die vom BGH zur Beweiswürdigung entwickelten Anforderungen zu übernehmen sind.Grundlage der Würdigung sind zunächst die Inhalte der relevanten Aussage. Sie sind, gegebenenfalls auch mit zugehörigen Details, im Urteil mitzuteilen (BGH Urteil vom 17.3.04; 2 StR 474/03). Anderenfalls ist die Würdigung der Kammer nicht nachvollziehbar und überprüfbar. Bevor eine Überzeugungsbildung und Würdigung stattfinden kann, bedarf es also einer Tatsachengrundlage: nur wenn die Überzeugung eine tragfähige tatsächliche Grundlage hat, ist eine Verurteilung oder ein Freispruch rechtsfehlerfrei möglich; denn anderenfalls könnten sich vom Gericht gezogene Schlussfolgerungen nur als Annahmen oder bloße Vermutungen erweisen (BGH Urteil vom 15.9. 04 - 2 StR 242/04). Des weiteren ist die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung der belastenden Aussage darzustellen (BGH StrVert 98,251). Schließlich darf sich der Tatrichter bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen nicht darauf beschränken, Umstände, die gegen die Zuverlässigkeit der Aussage sprechen können, gesondert und einzeln zu erörtern sowie getrennt voneinander zu prüfen und festzustellen, dass sie jeweils nicht geeignet seien, die Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Selbst wenn jedes einzelne die Glaubwürdigkeit der Angaben möglicherweise in Frage stellende Indiz noch keine Bedenken gegen die belastende Aussage aufkommen ließe, kann eine Häufung von jeweils für sich erklärbaren Fragwürdigkeiten bei einer Gesamtschau zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit eines Tatvorwurfs führen. Verlangt wird - in Wahrung der Unschuldsvermutung - auch die Gründe, die gegen eine mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, so dass die Entscheidung einen rationalen Charakter und eine tragfähige Grundlage für einen Schuldspruch und die mit ihm einhergehen Freiheitsentziehung vorweisen kann (BGH NStZ 02,48;m.w.N.). Dazu muss das Gericht bei einer von vielen Unsicherheiten geprägten Beweissituation - wie sie häufig im Fall Aussage gegen Aussage gegeben sein wird - trotz erlangter subjektiver Überzeugung alle weiteren erkennbaren Beweismöglichkeiten nutzen (BVerfG NJW a.a.O.). Das Tatgericht darf dabei aber nicht von seiner Überzeugung ausgehen, soweit ihr zwingende Gesetze der Logik, feststehende Erkenntnisse der Wissenschaft oder dem Zweifel enthobene Tatsachen der Lebenserfahrung widerstreiten (BGH 29,18).Die Beweiswürdigung muss dann noch auf die mögliche Gefahr eingehen, dass der Aufklärungsgehilfe um eines eigenen möglichen Vorteils willen den nicht Geständigen zu Unrecht belastet. Fehlen in den Urteilsgründen Darlegungen hier zu, kann dies als durchgreifender Erörterungsmangel ein sachlich rechtlicher Fehler sein (BGH StrVert 04, 578 folgende). Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Kammer es in den Urteilsgründen unterlassen hat, auf den Umstand, dass die Zeugin Kapinus sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen hat und nicht zuletzt wegen eines möglichen Anspruchs auf Schmerzensgeld – oder auch nur Ersatz ihrer notwendigen Auslagen – ein eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens haben könnte, bei der Würdigung der Aussage der Nebenklägerin einzugehen.Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar die freie Beweiswürdigung des Tatgerichts unangetastet bleibt, die dargestellte Rechtsprechung insoweit keine festen Beweisregeln aufgestellt, aber zumindest auch für § 261 StPO feste Beweiswürdigungsgrundsätze vorgegeben hat um den Möglichkeiten des Missbrauchs und der Willkür Grenzen zu setzen und tatrichterliche Entscheidungen überprüfbar zu machen.Diese Grundsätze gelten auch für die Würdigung der Aussage des Angeklagten. Auch bezüglich der entlastenden Angaben des Angeklagten hat der Tatrichter sich eine Überzeugung von Richtigkeit und Unrichtigkeit aufgrund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme zu bilden (BGH NStZ 02,48). Im vorliegenden Urteil hat die Kammer zwar eine Vielzahl der Tatumstände dargestellt. Die von der Kammer vorgenommene Würdigung dieser Umstände kann aber nicht den dargestellten Ansprüchen der Rechtsprechung, die an die Würdigung der Aussagen und ihre Darlegung im Urteil zu stellen sind, genügen. Das Urteil kann daher keinen Bestand haben. Unter Berücksichtigung der dargestellten Maßstäbe werden in Bezug auf das angegriffene Urteil die folgenden Punkte als Verletzung des § 261 StPO gerügt:
1. Das Gericht berücksichtigt in seinen Urteilsfeststellungen nicht die Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie. Die Urteilsbegründung ist insoweit lückenhaft.Die Überprüfung einer Wiedererkennungsbehauptung muss sich aus wissenschaftlicher Sicht mit drei Phasen auseinandersetzen: der Wahrnehmung, der Erinnerung als Verarbeitung des Wahrgenommenen und der Wiedergabe der Erinnerung, also der Wiedererkennung im engeren Sinn (Odenthal, Die Gegenüberstellung in Strafverfahren, 3. Aufl., 22 m. w. N.). a) WahrnehmungDie Bewertung, ob ein zutreffendes Wiedererkennen des Täters durch den Zeugen möglich ist, setzt zunächst die Feststellung voraus, dass der Zeuge den Täter fehlerfrei wahrnehmen konnte.Dabei sind objektive und subjektive Wahrnehmungsfähigkeit zu unterscheiden (Odenthal, Seite 22).Hinsichtlich der objektiven Möglichkeit der Wahrnehmung führt die Kammer in den Urteilsgründen aus, dass es " zwar dunkel … , jedoch der Campus hell erleuchtet " gewesen sei und die Nebenklägerin dem Täter " ins Gesicht geschaut " habe (UA 9).Die Kammer wertet diese Umstände so, dass die Nebenklägerin " die Möglichkeit hatte, sich das Gesicht des Täters einzuprägen " (UA 15) bzw. sie sich " den Täter sowohl vom äußerlichen Aussehen als auch von Verhalten und Stimmlage her merken " konnte(U 16).Zur Begründung dieser Wertung führt die Kammer aus, dass es " keiner näheren Erklärung (bedürfe), dass jemand, der nachts von einer anderen Person angesprochen wird und mit dieser ein Gespräch führt, sich zunächst auch vergewissert, wer sein Gegenüber ist, nicht zuletzt deshalb, um herauszufinden, ob es sich um eine bekannte Person handelt " (UA 16).Diese Begründung ist lediglich eine willkürliche Schlussfolgerung der Kammer, die sich weder aus einer –gerichtlichen oder außergerichtlichen- Einlassung der Nebenklägerin noch aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergibt. Naheliegend ist es vielmehr, dass der Angesprochene - gerade nachts - gar nicht erst Blickkontakt sucht und ein " in das Gesicht schauen " vermeidet, um dem unerwünschten Gesprächspartner bloß nicht Bereitschaft zu einem Gespräch durch ein " offenes Gegenübertreten " zu signalisieren. Auch hat die Nebenklägerin mit keinem Wort erwähnt, sich vergewissern zu wollen, dass es sich bei der Person nicht um einen Bekannten handelt. Dies ist eine willkürliche Interpretation der Kammer. Aber selbst wenn man diese von der Kammer gewählte "Negativprüfung" als Anlass und Motiv für das " ins Gesicht schauen " unterstellt, so erklärt sie damit noch nicht, warum die Nebenklägerin sich das Gesicht des Täters deswegen " merken konnte " oder gar " eingeprägt hat ". Nur um einen Bekannten auszuschließen, hätte es einer solch intensiven Betrachtung nicht bedurft. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zeuge eine Person, die er im Rahmen eines von ihm zum Zeitpunkt der Beobachtung als unbedeutend eingestuften Vorgangs wahrgenommen hat, zuverlässig wiedererkennen kann, ohne dass für eine einprägsame Personenbeobachtung eine plausible Motivation erkennbar wäre, ist äußerst gering (Odenthal, a.a.O., 23). Es geht im Schwerpunkt nicht allein um die Frage, ob die Nebenklägerin dem Täter tatsächlich ins Gesicht geschaut hat, sondern vielmehr darum aus welchem Grund, mit welcher Motivation sie dies getan haben soll. Diese Frage beantwortet die Kammer nach ihren eigenen Vorstellungen willkürlich, ohne sich mit den Umständen angemessen auseinanderzusetzen.Bekanntermaßen gibt dabei auch die Dauer der Beobachtungsmöglichkeit - der die Kammer große Bedeutung beimisst (15 unten/16 UA) - nur beschränkte Hinweise auf eine mögliche Wiedererkennung. Wesentliche Bedeutung für die Nachvollziehbarkeit einer behaupteten Wiedererkennung kann der Dauer der Beobachtungsmöglichkeit jedoch nicht zugemessen werden (Undeutsch, in:FS Karl Peters, 1984, Die Wiedererkennung von Personen; 463). Entgegen der von der Kammer bemühten Begründung, dass es im Ergebnis für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Wiedererkennungsbehauptung auch „wichtig (war), dass die Nebenklägerin nicht nur über einen kurzen Augenblick die Möglichkeit hatte, sich den Täter … zu merken, sondern sich die Situation über einen längeren Zeitraum hinzog“, ist dies Argument unter wissenschaftlichen Aspekten untauglich. Die Würdigung der Kammer ist insoweit unvollständig und fehlerhaft da sie gegen wissenschaftliche Erkenntnisse verstößt.Bei der Bewertung der objektiven Wahrnehmungsmöglichkeit lässt die Kammer auch die Tatsache, dass die Nebenklägerin neben der behaupteten konkreten Wiedererkennung der Gesichtszüge nichts anderes den Täter betreffend erinnern konnte, völlig unberücksichtigt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich in der Erinnerung das Erscheinungsbild einer Person auf wenige Gesichtszüge beschränkt, ohne dass weitere - vielleicht sogar bedingt überprüfbare - nebensächliche Einzelheiten (wie z.B. Schriftzüge auf der Kleidung, Ketten, Uhren, Ringe o.ä.) in Erinnerung bleiben.Für die Beurteilung der subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit kommt es darauf an zu wissen, ob der Zeuge generell oder unter den besonderen Umständen der Tatsituation zu einer zuverlässigen Wahrnehmung überhaupt in der Lage war. Wegen der Selektivität der menschlichen Wahrnehmung wird nicht alles, was objektiv wahrnehmbar ist, subjektiv auch wahrgenommen. Eine Überprüfung allein der objektiven Wahrnehmungsbedingungen ohne Einbeziehung der für die Selektion maßgebenden Umstände muss daher zwangsläufig zu einer Überschätzung der Wahrnehmungsfähigkeit des Zeugen in der konkret zu beurteilenden Situation führen (Odenthal, a.a.O., 22,23).Die deswegen gebotene Überprüfung der subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit der Nebenklägerin ist in den Urteilsgründen unvollständig und willkürlich.Zunächst unterlässt es die Kammer auf die von der Nebenklägerin selbst geschilderte Alkoholisierung im Zusammenhang mit der Wahrnehmungsfähigkeit der Zeugin einzugehen. Eine - auch leichte - Alkoholisierung beeinträchtigt aber anerkanntermaßen die Wahrnehmungsfähigkeit. Dies beschränkt sich nicht auf die Fähigkeit der optischen Erkennung, sondern bezieht sich vielmehr auf die Fähigkeit optische Informationen richtig und angemessen im Gedächtnis zu verarbeiten. Es ist gesicherte medizinische Erkenntnis, dass Alkohol im menschlichen Körper neben anderen Funktionen auch das Erinnerungsvermögen beeinflusst. Acetylcholin ist ein wichtiger Überträgerstoff im gesamten Körper. Seine Rezeptoren nehmen unter Alkoholeinfluss ab. Dies kann für kognitive Defizite verantwortlich sein – es kommt zu Fehleinschätzungen und Gedächtnisschwäche. Dabei ist zu beachten, dass die Nebenklägerin schon selbst die Wirkung des Alkohols bei sich festgestellt hat (8 UA).Auf die diesbezüglichen Ausführungen zur Aufklärungsrüge unter Ziffer I 7. wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.Auch die Ausführungen der Kammer, die Wahrnehmung der Nebenklägerin sei " nicht getrübt durch eine Angst - und Schrecksituation " (16 UA), da die Nebenklägerin den Täter in einer noch unverfänglichen Situation kennengelernt habe, ist nichtssagend und lässt erkennen, dass die Kammer die Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie nicht oder wahllos ohne die erforderliche Auseinandersetzung mit ihren wissenschaftlichen Feststellungen anwendet. Für den Wiedererkennungs - und Auswahlprozess ausschlaggebend ist die psychische Verfassung des Beobachters. Es macht einen Unterschied, ob der Zeuge den Tathergang als unbeteiligter Zuschauer oder als betroffenes Opfer erlebt. Dabei lassen sich aber die Auswirkungen der emotionalen Betroffenheit auf die Fähigkeit zu einer zuverlässigen Personenbeobachtung nicht annähernd so genau bestimmen wie die Einflüsse der in positive und negative Kategorien einteilbaren objektiven Wahrnehmungsbedingungen. Die Einbeziehung in das Tatgeschehen kann sowohl die Wirkung haben, dass sich der Zeuge den Täter genau einprägt, als auch die, dass das in Angst und Schrecken versetzte Opfer zu einer ruhigen Beobachtung überhaupt nicht in der Lage ist. Die unbeteiligte Zuschauerrolle kann dazu führen, dass dem Ereignis wenig Beachtung beigemessen wird, aber auch dazu, dass der Zeuge sich in der günstigen Situation des kühlen Beobachters den Vorgang nachhaltig einprägt. Obwohl also eindeutige Aussagen über die Auswirkungen der emotionalen Betroffenheit auf die Wiedererkennungsleistung nicht möglich sind, gibt es als Anhaltspunkte für " gute " und " schlechte " Wahrnehmungssituationen (Odenthal, a.a.O., 23; Undeutsch, a.a.O. 464 ). Die von der Kammer aus der Tatsituation in Bezug auf die subjektive Wahrnehmungsfähigkeit der Nebenklägerin gezogenen Rückschlüsse („nicht getrübt durch Angst- und Schrecksituation“) lassen sich somit wissenschaftlich nicht begründen und sind daher willkürlich und lückenhaft.Die Kammer hätte sich in seiner Urteilsbegründung im Wesentlichen mit der Frage auseinandersetzen müssen, welche positiven und/oder negativen Einflüsse für den jeweiligen Zeugen in Bezug auf dessen objektive Wahrnehmungsbedingungen bestanden. Für die Zeugin Kapinus ist also in der Hauptverhandlung - und den Ermittlungen – nicht festgestellt, welche Motivation diese in der noch neutralen Situation der ersten Ansprache gehabt haben soll, sich das Gesicht des Täters einzuprägen. Dies ist oben dargelegt. Während der eigentlichen Tatausführung ist die Wahrnehmungssituation ebenfalls als Negativ zu bewerten, weil die Auswirkungen der emotionalen Betroffenheit (" außerdem habe sie gedacht, er bringe sie um,... 9 UA) aus wissenschaftlicher Sicht nicht abschließend beurteilt werden können. Allerdings scheint aus wissenschaftlicher Sicht manches darauf hinzudeuten, dass mit zunehmender Schwere der Straftat (hier versuchte Vergewaltigung des Opfers mit Todesangst) die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Opfers beeinträchtigt werden (Odenthal, a.a.O., 24). Auf den im Übrigen negativen Einfluss auf die Wahrnehmungsfähigkeit durch die Alkoholisierung während des gesamten Tatablaufs ist bereits hingewiesen worden.Anders als die Nebenklägerin befand sich der Zeuge Denshykov in einer " guten " Wahrnehmungssituation. Er war in das Tatgeschehen als Betroffener nicht eingebunden. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich zunächst nicht auf den Vorfall (" als er auf die Ecke des Zentralen Hörsaalgebäude zugekommen sei habe er ein Pärchen gesehen ", 13 UA), bis er den Hilferuf der Nebenklägerin wahrnahm. Er erkannte nun die Maßgeblichkeit des Geschehens. Er konnte schon beim Annähern erkennen, dass die männliche Person ihren Reißverschluss am Hosenschlitz schließt (13 UA). Er stellte sich zwischen das Opfer und den Täter, so dass er diesem von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. In dem Bewusstsein, dass es sich um eine Straftat handelt, drängte der Zeuge Denshykov den Täter ab und gab der Nebenklägerin die Anweisung, sie solle sich entfernen während er auf den Täter achten würde (10, 13 UA). Noch einmal reagierte der Zeuge Denshykov auf den Täter, als dieser zum Tatort zurückkehrte und den Zeugen sogar direkt ansprach (13 UA). Neben der konkreten und detailreichen Erinnerung des Zeugen Denshykov an den Tatablauf - was die Kammer zumindest in den Urteilsgründen in Bezug auf die Nebenklägerin als besonderen Hinweis auf deren Glaubwürdigkeit gewertet hatte - konnte der Zeuge Denshykov, anders als die Nebenklägerin, auch noch eine Erinnerung an die Kleidung des Täters darlegen ( 13 UA).Der Zeuge Denshykov befand sich also unter Berücksichtigung des Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer " guten " Wahrnehmungssituation. Aus einer zunächst unbeteiligten Beobachtung wird seine Wahrnehmung auf die Beteiligten fokussiert in dem Bewusstsein, dass es sich um eine Straftat handelt. Dies wird aus dem Umstand deutlich, dass es der Zeuge Denshykov war, der sich schon vor der Nebenklägerin wegen des Vorfalls selbständig bei der Polizei gemeldet hatte (1, Bd.1 d.A.).Der Zeuge Denshykov, der bezüglich des Erscheinungsbilds des Täters noch über eine bessere Erinnerung als die Nebenklägerin verfügte, hat bei einer Wahllichtbildvorlage zwei andere männliche Personen als mögliche Täter beschrieben (13 UA), obwohl ihm bei der benannten Wahllichtbildvorlage auch ein Bild des Angeklagten vorgelegt worden war (Blatt 48,49 der Ermittlungsakten). Selbst bei der Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung (in 1. und 2. Instanz) hat der Zeuge Denshykov lediglich eine Ähnlichkeit des Angeklagten mit dem Täter festgestellt. Dabei wäre es für ihn angesichts der besonderen Situation in der Hauptverhandlung ein Leichtes gewesen, den Angekalgten „sofort einzuordnen“ (vgl. 26 UA). Die Tatsache, dass der Zeuge Denshykov eine Ähnlichkeit des Täters mit dem Angeklagten festgestellt hat kann bei richtiger Beurteilung aber eben kein Hinweis auf den Ausschluss einer irrtümlich falschen Belastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin sein, sondern muss vielmehr als Bestätigung eines solchen Irrtums gewertet werden. Denn die Aussage des Zeugen Denshykov kann nicht anders verstanden werden, als dass dieser ein Bild vom Täter hat, dies aber nicht dem Erscheinungsbild des Angeklagten entspricht, sondern diesem lediglich ähnelt. Insbesondere unterlässt es die Kammer, diese Feststellung des Zeugen Denshykov im Zusammenhang mit der polizeilichen Aussage der Nadine Müller ( 24 UA) zu bewerten, die auch ihrerseits –wie der Zeuge Denshykov- eine Ähnlichkeit des Täters in ihrem Fall mit dem Angeklagten des vorliegenden Falles feststellte, aber den Angeklagten mit Sicherheit als Täter ausschloss.Die Beobachtungsfähigkeiten des in das Tatgeschehen nicht eingebundenen Zuschauers hängt entscheidend von seiner Aufmerksamkeitskonzentration ab. Was Interesse findet, wird bewusster wahrgenommen und sicherer erinnert als nebensächlich erscheinende Ereignisse. Hat der Zeuge dem beobachteten Vorgang besondere Bedeutung beigemessen, macht die gesteigerte Aufmerksamkeitskonzentration eine zuverlässige Beobachtung wahrscheinlicher. Erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmungsgenauigkeit hat dabei das Erkennen der Rechtswidrigkeit des Geschehens (Odenthal, a.a.O., 23). Und genau in dieser Situation befand sich der Zuge Denshykov.Vor diesem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse ist die Begründung der Kammer, der Aussage der Nebenklägerin größere Bedeutung beimessen zu wollen weil der Zeuge Denshykov " nicht nur mit dem Täter sondern auch mit der Person der Nebenklägerin konfrontiert " war und der " schließlich auch nicht in der Weise betroffen (war) wie die Nebenklägerin "(26 UA), objektiv falsch und somit nicht tragfähig für eine Urteilsbegründung.Berücksichtigt man nun noch, dass bei Zeugen einer als schwer eingestuften Straftat die Motivation, einen " Schuldigen " zu bestrafen, zu einer größeren Bereitschaft führt, bei einer späteren Gegenüberstellung jemanden als Täter zu bezeichnen (vgl.Odenthal,a.a.O.,24, m.w.N.), so ist der Aussage des Zeugen Denshykov ein noch höheres Maß an Bedeutung beizumessen.Schließlich ist für den Zeugen Denshykov –anders als für die Nebenklägerin- auch nicht die Möglichkeit der Wahrnehmungsbeeinträchtigung aufgrund eines eigenen Interesses an der Aufklärung der Straftat festzustellen.Die Kammer hat eine Abwägung der subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit der Nebenklägerin zum einen und des Zeugen Denshykov zum anderen dadurch versucht zu umgehen, dass sie den Zeugen Denshykov - aus welchen Gründen auch immer - dahin verstanden haben will, dass dieser den Täter wegen der Lichtverhältnisse nicht erkannt haben will. Die Kammer unterlässt es, darzustellen, aus welchem Umstand oder welcher Äußerung sie dazu kommt, den Zeugen " dahin verstanden " zu haben. Die –unzutreffende- Behauptung, der Zeuge hätte solches erklärt stellt die Kammer auch selbst nicht auf. Wie der Zeuge schon bei der Annäherung an den Tatort erkennen konnte, dass der Täter den Reißverschluss an seinem Hosenschlitz schließt, (was die Nebenklägerin ihrerseits nicht einmal erinnert) lässt sich mit der von der Kammer dargestellten Auffassung, es sei für Beobachtungen am Tatort zu dunkel, nicht in Einklang bringen. Gleiches gilt für die Erinnerung an die Kleidung des Täters. Dass der Zeuge dem Täter im Übrigen von Angesicht zu Angesicht während des Abdrängens wohl näher gegenüber stand als dem Opfer, welches er spontan bei der Polizei ohne Hinweis auf den Personenzusammenhang wiedererkannt hatte, lässt die Kammer dabei völlig unberücksichtigt. Schließlich hat der Zeuge auch eine Ähnlichkeit des Angeklagten mit dem Täter angegeben. Dies setzt voraus, dass er den Täter erkannt hat. Auf die Ausführungen zu der Aufklärungsrüge unter Ziffer I 6. wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Ausführungen im Urteil zur Wahrnehmungssituation die Grundsätze der Wahrnehmungspsychologie nicht berücksichtigen teilweise lückenhaft und daher im Ergebnis willkürlich sind.
b) ErinnerungZwischen Wahrnehmung und Wiedergabe verstreicht Zeit. Die Erinnerung ist Verlebendigung des Aufgenommenen. Sie wird durch negative Einflüsse, die das Wahrnehmungserlebnis überdecken, verfälscht (Odenthal, a.a.O. 24).Die Kammer geht in den Urteilsgründen mit keinem Wort auf den Umstand ein, dass auf Grund der von der Nebenklägerin gelieferten Informationen ein Phantombild erstellt und veröffentlicht wurde, ihr eine Vielzahl von Lichtbildern vorgelegt wurden und sie wiederholt Täterbeschreibungen abgegeben hat.Dies kann aber letztlich dazu führen, dass die Erinnerung des Zeugen an den beobachteten Täter mehr und mehr durch die Erinnerung an das veröffentlichte Bild des vermutlichen Täters verdrängt und überlagert wird. Ob es tatsächlich zu einem solchen Verdrängungs- und Überlagerungsprozess führt, spielt dabei keine Rolle (Odenthal, a.a.O., 25).In völliger Verkennung dieses unbestreitbaren Phänomens führt die Kammer aus, dass "die Nebenklägerin bereits aus ihrer Sicht von Anfang an plausibel und nachvollziehbar eine relativ genaue und präzise Erinnerung an den Täter gehabt haben muss, anderenfalls sie nicht mit solcher Gewißheit ihre Aussagen zu den vorgelegten Fotos treffen konnte“ (17UA). Die Kammer erkennt offensichtlich nicht einmal die Möglichkeit eines solchen Überlagerungsprozesses.Der Zeitablauf spielt aber in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle: in der Person des Zeugen kann er zu einem Erinnerungsverlust, in der Person des Täters zu Veränderungen der äußeren Erscheinung führen. Selbstverständlich ist, dass die Erinnerungsfähigkeit mit zunehmendem Zeitablauf nachlässt. Dabei nimmt die Erinnerung nicht gleichbleibend ab: der Erinnerungsverlust ist unmittelbar nach dem Erlebnis und in den ersten Tagen danach am größten, während das einmal im Langzeitgedächtnis dauerhaft Gespeicherte noch nach relativ langer Zeit erinnert werden kann. Diese nicht speziell bei Identifizierungen entwickelten Erkenntnisse erlauben die generelle Schlussfolgerung, dass ein zuverlässiges Wiedererkennen desto zweifelhafter ist, je länger der zwischen Wahrnehmung und Gegenüberstellung liegende Zeitraum ist und je flüchtiger der Zeuge die Beobachtung gemacht hat. Vor allem die Erinnerung an Einzelheiten der Tätererscheinung dürfte mit zunehmendem Zeitablauf abnehmen, während ein zutreffender Gesamteindruck über Jahre relativ dauerhaft im Gedächtnis verhaftet bleiben kann. Die Erinnerung unterliegt einem ständigen Verarbeitungsprozess. Die aufgenommene Wahrnehmung wird unbewusst durch neue Erlebnisse, Einarbeitung anderer Auffassung und eigene Kombination verändert. Insbesondere die Tätigkeiten, die der Zeuge im Interesse der Identifikation des Täters entfaltet, beeinflussen und verfälschen die Erinnerung (Odenthal, a.a.O., 25 f).Es ist aus wissenschaftlicher Sicht also völlig unerheblich, ob die Nebenklägerin " von Anfang an " eine " relativ (!) genaue und präzise Erinnerung an den Täter hatte. Seit der Tat am 14.8.03 waren "ein paar Wochen" (10 UA) bis zur behaupteten Wiedererkennung vergangen. In ihrem Gedächtnisprotokoll vom 18.11. 03 gibt die Nebenklägerin an, den vermeintlichen Täter 14 Tage vor dem 5.11.03 - also Ende Oktober 03 - zweimal an der Uni Göttingen gesehen zu haben (Bl. 51 Bd. 1 d.A.). Und in dieser Zeit wohnte der Angeklagte zumindest seit dem 1.9. 2003 genau wie die Nebenklägerin im Studentenwohnheim " Akademische Burse ", welches in unmittelbarer Nähe der Universität liegt (8,11 UA). Dies ist bemerkenswert, weil die Nebenklägerin angibt, nach der behaupteten ersten Wiedererkennung den Angeklagten auch wiederholt im Bereich der Universität gesehen zu haben (Blatt 28 UA). Trotz dieses Umstands setzt sich die Kammer auch mit der Möglichkeit der falschen Wiedererkennungszuschreibung nicht ansatzweise auseinander. Dabei ist es belegt, dass es vorkommen kann, dass bei der Gegenüberstellung jemand als Täter bezeichnet wird, bloß weil der Zeuge richtig erkennt, dass er den betreffenden früher schon einmal gesehen hat, und dies fälschlich auf die Tatsituation bezieht. Undeutsch (a.a.O., 468, m.w.N.) berichtet von einem bekannten Beispiel, in dem auf den Fahrkartenverkäufer eines Bahnhofs ein bewaffneter Raubüberfall verübt worden war. Eines Tages meinte dieser, den Täter wiedergesehen zu haben und verständigte die Polizei, die den Mann festnahm. Dieser hatte ein Alibi. Es wurde festgestellt, dass der Fahrkartenverkäufer den Mann früher dreimal gesehen hatte, als er bei ihm Fahrkarten gekauft hatte. Beim erneuten zufälligen Wiedersehen kam ihm der Mann bekannt vor, was zutreffend war, aber er glaubte irrtümlich, in ihm den Täter wieder zu erkennen. Für die Praxis - so die Schlussfolgerung bei Undeutsch - ergibt sich daraus, dass es nie unterlassen werden darf, der Frage nachzugehen, ob der Zeuge möglicherweise (Hervorhebung durch den Unterzeichner) den Beschuldigten schon einmal in einem anderen Zusammenhang gesehen haben kann. Die Kammer führt dazu nichts aus. Auch insoweit ist die Urteilsbegründung in einem wesentlichen Teil unvollständig.Schließlich führt die Kammer in den Urteilsgründen selbst aus, dass die Nebenklägerin bemüht war, "den Vorfall zu verdrängen" (17 unten UA), ein Überlagerungsprozess also bereits eingesetzt hatte.Trotz dieser Feststellungen im Rahmen der Beweisaufnahme ignoriert die Kammer die Bedeutung des Zeitablaufs zwischen der Wahrnehmung und der behaupteten Wiedererkennung in Bezug auf die Verarbeitung der abgespeicherten Informationen. Das Urteil ist also auch in diesem Bereich lückenhaft und willkürlich.
c) Wiedererkennung, WiedergabeEs ist anerkanntermaßen schwer, Anhaltspunkte der Wiedererkennung wegen der Detailarmut deutlich zu machen, insbesondere wenn keine markanten Merkmale vorhanden sind. Dies darf aber nicht dazu führen, dass Angaben nicht überprüfbar sind und der Willkür Tür und Tor geöffnet ist.Im Urteil wird ausgeführt, dass1) die Nebenklägerin sich in der Wahrnehmungssituation "das Verhalten" und "das Gesicht " " eingeprägt " hat (16 UA) und 2) sie den Täter an "der Art und Weise wie er die Stirn in Falten gelegt habe" und seinem "Grinsen" wieder erkannt habe (11 UA). Es ist nicht erkennbar - und somit nicht überprüfbar - in welchem Moment des Tatablaufs der Täter seine Stirn in Falten gelegt oder gegrinst haben soll. Den behaupteten Merkmalen der Wiedererkennung fehlen die Entsprechungen in der Wahrnehmungssituation. Konkrete Merkmale, die den Angeklagten auch von möglichen anderen Tätern zumindest weitgehend abgrenzen hat die Kammer nicht festgestellt. In der Tat ist der Angeklagte - wie von der Nebenklägerin angegeben - größer als 1,64 m und kleiner als etwa 1,85 m. Er ist dabei eher schlank mit einem schmalen - länglichen? - Gesicht. Er stammt zwar nicht aus der Türkei aber im weiteren Sinne "aus der Region" spricht dementsprechend Deutsch nicht als Muttersprache und hat - wohl auch dementsprechend - kurze schwarze Haare (12 UA). Diese von der Nebenklägerin und dem Zeugen Denshykov –und im übrigen auch der Nadine Müller (23 UA)- angegebenen Informationen zum äußeren Erscheinungsbild des Täters treffen aber auf mindestens mehrere 100.000 Menschen und - wenn man sich auf die Region Göttingen beschränkt - mehrere Hundert Menschen zu. Die Nebenklägerin kann –wie die anderen Zeugen auch- also nur einen pauschalen Gesamteindruck wiedergeben, der definitiv nicht zur Eingrenzung oder gar Individualisierung geeignet, geschweige denn überprüfbar ist. Es kann und darf nun aber nicht sein, dass eine Verurteilung auf einer nicht einmal in Ansätzen überprüfbaren Behauptung eines einzigen Zeugen beruht. Der Kammer scheint dies unbedeutend zu sein, wenn sie denn ohne die tatsächlichen Feststellungen für diesen Rückschluss darzulegen, ausführt, „das die Nebenklägerin … von Anfang an plausibel und nachvollziehbar eine relativ genaue und präzise Erinnerung an den Täter gehabt haben muss, anderenfalls sie nicht mit solcher Gewissheit ihre Aussagen zu den vorgelegten Fotos treffen konnte“ (17 UA). Diese Würdigung der Kammer ist nun tatsächlich „freischwebend“, ohne Anlehnung an irgendwelche eigenen Feststellungen der Kammer im gesamten Verfahren.Es sind daher um so höhere Ansprüche an eine Überprüfung der Wiedererkennungssituation zu stellen, wenn denn daraus eventuelll - bedingt aussagekräftige - Rückschlüsse auf die Richtigkeit der Aussage der Zeugin gezogen werden sollen. In ihren Ausführungen offenbart die Kammer aber auch in diesem Bereich, dass sie gesicherte Grundsätze der Wahrnehmungspsychologie nicht anwendet. Als geradezu eklatante Verletzung wissenschaftlicher Erkenntnisse stellt sich die Feststellung der Kammer dar, dass "aus Sicht der Kammer... auch der Prozess des Wiedererkennen selbst ein Umstand (ist) der für die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin spricht und wiederum dagegen spricht, dass sich die Nebenklägerin irrt. Vorzuheben ist hier, dass sich die Nebenklägerin noch ziemlich genau an die äußeren Umstände des Wiedererkennens erinnert, so zum Beispiel daran, dass es ein erstes Wiedererkennen in der Mensa der Universität und ein zweites Wiedererkennen in beziehungsweise an einem Cafe ebenfalls auf dem Universitätsgelände gegeben hat. Auch dieses wertet die Kammer zunächst als Hinweis darauf, dass die Nebenklägerin allein von ihrem Wahrnehmungsvermögen aber auch von ihrem Wiedergabevermögen in der Lage ist, Details in Erinnerung zu behalten und der relativ präzise formuliert auch wiederzugeben. Hervorzuheben ist aus Sicht der Kammer, dass nach Aussage der Nebenklägerin sich das Wiedererkennen des Täters und die Identifizierung des Angeklagten nicht als ein einmaliges Ereignis darstellt, sondern als ein Prozess, der sich über mehrere "Stationen" hinzog " (17 UA).Wissenschaftlich gesichert ist, dass die bei der ersten Gegenüberstellung wirksam gewordenen suggestiven Einflüsse jedes weitere Wiedererkennen belasten, weil eine fehlerfreie Wiederholung der Gegenüberstellung nicht möglich ist. Eine wesentliche und in der Psychologe unangefochtene Erkenntnis ist, dass jedes dem ersten Wiedererkennen folgende, also das wiederholte Wiedererkennen, ohne jede Beweiswert ist. Der bei dem ersten Wiedererkennen von dem Beschuldigten gewonnene Eindruck setzt sich unbewusst an die Stelle der ursprünglichen Wahrnehmung und überlagert diese völlig. Da dieser Prozess im Unbewussten abläuft, helfen auch Beteuerungen des Zeugen nichts, durch die erste Gegenüberstellung nicht voreingenommen zu sein. Beruht die erste Identifizierung auf einem Irrtum, so wird nach allen Erfahrungen jedes folgende Wiedererkennen durch den nämlichen Irrtum beeinflusst. Der Zeuge wird durch jede weitere Konfrontation mit dem einmal identifizierten Tatverdächtigen zunehmend sicherer, dass die einmal getroffene Entscheidung richtig war. Dies kann dazu führen, dass sich in der Einschätzung des Zeugen die zunächst nur bestehende Vermutung von einer mehr oder weniger vagen Ähnlichkeit des Tatverdächtigen mit dem Täter zu der Überzeugung einer Identität verfestigt (Odenthal, a.a.O., 27,28).Ungeachtet dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse wiederholt die Kammer in den Urteilsgründen, dass " aus Sicht der Kammer im vorliegenden Fall von erheblicher Bedeutung (ist) dass die Nebenklägerin die zweite Begegnung im Zusammenhang mit dem Erkennen des Täters so geschildert hat, dass sie nicht etwa die Person wiedererkannt hat, die sie bei der ersten Begegnung mit dem Täter nach dem Vorfall in der Mensa gesehen hatte. Vielmehr habe sie bei der zweiten Begegnung in einem Cafe auf dem Universitätsgelände den Täter ein zweites Mal wiedererkannt. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich die Nebenklägerin diese Geschehnisse ausgedacht hat, zumal sie das eigentliche Tatgeschehen nicht betreffen. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Nebenklägerin in der Lage war, die insoweit stattgefundenen Ereignisse zu reflektieren, aber auch präzise zu formulieren und wieder zu geben" (18 UA). Im Ergebnis kommt die Kammer dann sogar zu dem unter wissenschaftlichen Aspekten unhaltbaren Ergebnis, dass durch die Wiedererkennung "über mehrere Stationen" die Möglichkeit, dass die Nebenklägerin den Täter in eine bestimmte Person hineinprojiziert hat, reduziert wird" (17 UA). Hätte sich die Kammer mit der für die Wiedererkennung maßgeblichen Prozesse auseinander gesetzt, hätte sie feststellen müssen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Die dargestellten Ausführungen der Kammer stehen in einem deutlicher Widerspruch zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Würdigung ist offenkundig fehlerhaft.Maßgeblich ist also allein die Bewertung des ersten Wiedererkennens. Zu diesem ersten Wiedererkennen sind in der Hauptverhandlung weder durch die Nebenklägerin noch durch andere Zeugen Feststellungen, die über die Darstellung eines äußeren Ablaufs hinausgehen, getroffen worden. Bedeutung gewinnt an dieser Stelle aber das Gedächtnisprotokoll der Nebenklägerin vom 18.11.03, in welchem diese ausführt, dass sie "diesen Mann in den zwei Wochen davor bereits zweimal an der Uni Göttingen gesehen (hatte). Bei diesem flüchtigen Erblicken war ich jedes Mal sehr irritiert gewesen, weil ich den Eindruck hatte, dass es der Mann war, der ungefähr zwei Monate zuvor versucht hatte, mich auf dem Campus Gelände zu vergewaltigen... Meine Absicht war entweder zu sehen, welches Haus er betrat bzw. noch mal nah genug an ihn heranzukommen, um sein Gesicht noch einmal näher zu betrachten bzw. eine mögliche Reaktion seinerseits (auch ein Tipp von Frau Fülle) zu beobachten " (Bl. 51 Bd. 1 d.A.).Keinesfalls schilderte die Nebenklägerin in ihrem Gedächtnisprotokoll ein eindeutiges Wiedererkennen des Täters beim ersten Zusammentreffen. Vielmehr schilderte die Zeugin "irritiert gewesen" zu sein weil sie "den Eindruck" - und eben nicht die Sicherheit oder Überzeugung - hatte, in der Person den Täter zu erkennen.Zudem führte die Nebenklägerin in ihrem Gedächtnisprotokoll bei der Schilderung des dritten Zusammentreffens in der Fußgängerzone aus: " Als ich ihm dann gegenüberstand, ihn reden hörte und seine Mimik sah, war ich mir hundertprozentig sicher " (Blatt 52, Band 1 d. A.). Vorher – nicht anders ist die Feststellung zu verstehen – bestand eben diese Sicherheit nicht, weder beim ersten bewussten, noch beim zweiten bewussten Treffen. An dieser Stelle wird nun auch entgegen der Auffassung der Kammer, dass die Aussage des Zeugen Rezania " für die Frage der Täterschaft wenig ergiebig " (28 UA) sei, die Bedeutung der Aussage des benannten Zeugen deutlich. Der Zeuge Rezania hat ausgesagt, dass die Nebenklägerin zu ihm gesagt hätte, " sie sei sich zwar zunächst nicht sicher gewesen, jedoch sei sie sich nach der Reaktion des Angeklagten, seinem " Grinsen " bei der Ansprache durch die Polizei Anfang November 2003 sicher gewesen " (28 UA). Insoweit gewinnt auch die Feststellung, dass selbst die Nebenklägerin angab, nicht mehr genau zu wissen, ob sie bei der polizeilichen Festnahme gesagt habe, sie sei sich fast sicher der, an Bedeutung (11 UA).Die Nebenklägerin hat sich gegenüber dem Zeugen Rezania unabhängig von gerichtlichen Verfahren in einem noch frühen Stadium der Ermittlungen konkret zu dem Wiedererkennungsprozess geäußert. Aus dieser Äußerung wird deutlich, dass die Nebenklägerin keinesfalls den Angeklagten bereits bei einem ersten Treffen in der Mensa der Universität Göttingen mit Sicherheit als Täter erkannt hat. Auf die psychischen Prozesse nach einer vermeintlich ersten Wiedererkennung und die gesicherte Erkenntnis, dass wiederholte Wiedererkennungen wertlos sind, ist bereits oben hingewiesen worden. Vorliegend war die Nebenklägerin in das dritte Treffen aber auf Grund des Hinweises der Polizeibeamtin Fülle, auf eine mögliche Reaktion des betreffenden zu achten, mit einer Erwartungshaltung gegangen. Aber eben auf Grund dieser " Voreinstellung " war eine unbeeinflusste Wahrnehmung und der Wiedererkennung nicht mehr möglich. Das bemüht freundliche Lächeln des Angeklagten konnte die Nebenklägerin in ihrer psychischen Situation nur als ein " Grinsen " deuten, da sie auf Grund einer vollständig anderen Bewertung der Situation in der Fußgängerzone als sie der Angeklagte in Folge der Missverständnisse vornahm, sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass hier ein freundliches Lächeln der Versuch einer angemessenen Reaktion sein könnte.Der behaupteten Wiedererkennung beim zweiten und dritten Zusammentreffen der Nebenklägerin mit dem Angeklagten fehlt also aus den dargelegten Gründen jede Aussagekraft. Aus der Aussage des Zeugen Rezania ergibt sich schließlich, dass die Nebenklägerin den Angeklagten beim ersten Zusammentreffen eben nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit als Täter erkannt hat. Nach eigenem Bekunden in ihrem Gedächtnisprotokoll hatte sie lediglich diesen " Eindruck " gewonnen. Dabei darf aber bei der Würdigung dieser Aussage auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Nebenklägerin als Opfer einer solch schweren Tat unbewusst stets auf der Suche nach einem Täter war. Auf Grund der bisherigen Ergebnisse musste sie davon ausgehen, dass die Ermittlungen erfolglos bleiben würden, wenn nicht sie einen Täter findet. Auch diese Situation ist als ein negativer Einfluss auf die Wiedererkennungsfähigkeit der Nebenklägerin zu werten.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Kammer bei der Würdigung der Wiedererkennungsbehauptung der Nebenklägerin die Grundsätze der freie Beweiswürdigung insoweit verletzt hat, als dass sie sämtliche Grundsätze der Wahrnehmungspsychologie entweder unberücksichtigt ließ oder gegen diese verstoßen hat und anstatt einer Beachtung dieser Grundsätze eine willkürliche, allein an Äußerlichkeiten des Tatablaufs orientierte Beweiswürdigung vorgenommen hat.
2) Das Gericht hat in den Urteilsgründen nicht alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise gewürdigt und dem Urteil zu Grunde gelegt. Dies stellt einen Verstoß gegen den Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung dar.Die Kammer führt in den Urteilsgründen (22 UA) aus, dass sie es als erwiesen ansieht, dass sich etwa eine Woche nach dem Verfahrens gegenständlichen Vorfall am 20./21.8. 03 ein ähnlicher Vorfall zum Nachteil der Geschädigten Müller ereignet hat ".Die Feststellungen der Kammer beruhen auf der im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Zeugenvernehmung der Nadine Müller vom 21.8. 03 (42 ff des Protokollbandes). Obwohl auch die Kammer in ihren Ausführungen die vollumfänglichen Parallelen zwischen beiden Fällen darstellt (22/23 UA), weigert sich das Gericht im Ergebnis dann doch unter Hinweis auf unbedeutende Abweichungen, die Bedeutung des Verfahrens " Nadine Müller " für die Beweiswürdigung anzuerkennen. Als maßgebliche Abweichung betrachtet die Kammer dabei u.a. den Umstand, dass die Zeugin Müller bekundet hat, sie sei - anders als die Nebenklägerin im vorliegenden Fall - mit beiden Händen gewürgt worden (23 UA). Dass der Täter gleichzeitig seine Hand zwischen die Beine der Nadine Müller gelegt hat, führt die Kammer zwar selbst in den Urteilsgründen aus (23 UA) erkennt aber nicht den Widerspruch zu der von ihr behaupteten maßgeblichen Abweichung. Offensichtlich hat der Täter die Nadine Müller auch mit beiden Händen gewürgt, davon aber abgelassen, als der seine Hand zwischen die Beine der Zeugin legte. Im übrigen stellt es doch bei der Tatbegehung – weder aus rechtlichen noch aus tatsächlichen Gründen – keinen wesentlichen Unterschied dar, ob mit einer oder teilweise zwei Händen gewürgt wird. Diese „Abweichung“ ist konkretisiert. Auch hinsichtlich des Aussehens des Täters im Falle " Müller " wertet die Kammer das Beweisergebnis nicht vollständig bzw. unzutreffend aus. So führt die Kammer (24 UA) aus, " die Geschädigte Müller hat den Täter auch als im Gesicht irgendwie komisch beschrieben, es seien irgendwie Pickel oder irgend so etwas gewesen, dies sei ihr so vorgekommen ". Tatsächlich hat die Zeugin in ihrer Vernehmung erklärt (Blatt 48 des Protokollbandes): " Ne, das Gesicht war irgendwie, irgendwie so komisch, dass irgendwie Pickel oder irgendwie so was war, ich weiß es nicht. Kommt mir so vor, vielleicht, weiß nicht, kommt mir auch so vor, weil das so eklig war." Die Würdigung der tatsächlichen Aussage in den Urteilsgründen ist falsch. Die Zeugin hat erklärt, dass das ganze eklig für sie war. Es kam ihr deswegen so vor, als ob der Täter Pickel gehabt hätte, letztlich habe sie es aber nicht gewusst. Die entscheidende Einschränkung, dass sie letztlich nicht weiß, ob der Täter Pickel hatte oder nicht, führt die Kammer in den Urteilsgründen nicht an. Wenn die Kammer die Täterbeschreibung jedoch als eine wesentliche Abweichung vom vorliegenden Tatablauf bewertet, so muss sie auch gerade diesen Aspekt vollständig auswerten. Ob ein solcher Unterschied im Erscheinungsbild bestanden hat, ist entgegen der Darstellung der Kammer nicht festgestellt. Unabhängig von dem äußeren Geschehensablauf, der letztendlich bei Lebens naher Betrachtung als identisch mit dem vorliegenden Fall bewertet werden muss, besteht auch eine markante erkannte Übereinstimmung im subjektiven Empfinden der jeweiligen Opfer. Die Zeugin Kapinus schilderte, der Täter " habe aber so fest zugedrückt, dass ihr die Luft weggeblieben sei. Sie habe noch mehrmals angesetzt, mit ihm zu reden, jedes Mal habe er fester zu gedrückt und nicht mehr losgelassen. Sie habe das Gefühl gehabt, sofort ohnmächtig zu werden. Außerdem habe sie gedacht, er bringe sie um,... " (9 UA). Nadine Müller gibt an: " ja, ich dachte halt echt, der erwürgt mich. Hätte er nur gewürgt, wenn ich weglaufen wollte oder schreien würde aber der hat mir ja den Mund zugehalten... " (45 des Protokollbandes) und " schon ziemlich gefährlich. Also es hätte gut sein können, wenn er mich noch ein bisschen länger gewürgt hätte, also ich weiß nicht, er war schon sehr brutal gleich. Hat wirklich richtig gewürgt und mir den Mund zugehalten, mich festgehalten " (49 des Protokollbandes). Beide Opfer schildern ein brutales würgen und empfinden übereinstimmend Todesangst. Woher angesichts dieser Schilderung die Kammer die Erkenntnis nimmt, dass die Geschädigte Müller " das Vorgehen des Täters nicht als so zielstrebig geschildert (hat) wie es im vorliegenden Fall die Nebenklägerin getan hat " (23/24 des Protokollbandes) bleibt unerfindlich.Eine vollständige Beweiswürdigung unter Einbeziehung sämtlicher sich aus der Einlassung der Nadine Müller ergebenden Umstände kann bei lebensnaher Betrachtung nur zu dem Ergebnis führen, dass hier eine identische Tat von einem identischen Täter ausgeführt wurden. Die unvollständige Beweiswürdigung der Kammer stellt einen Verstoß gegen die Grundsätze der freien Beweiswürdigung in §261 StPO dar.
3) Die Kammer hat die besondere Vorsicht, welche beim Wiedererkennen einer Person durch einen Zeugen grundsätzlich geboten ist, nicht berücksichtigt (vgl. BGH 16,204; 28,310). Sprechen mehrere Umstände gegen die Zuverlässigkeit einer Zeugenaussage sind diese nicht nur einzeln zu erörtern, vielmehr ist dann auch eine Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen, die gegen die Richtigkeit der Bekundungen sprechen können, erforderlich (BGH StrVert 96,367).Vorliegend hat die Kammer die gegen die Richtigkeit der Wiedererkennungsbehauptung der Nebenklägerin sprechenden Umstände teilweise im Einzelnen aufgeführt, (22 ff UA) die von der Rechtsprechung geforderte Gesamtwürdigung jedoch nicht vorgenommen. Die Ausführungen der Kammer erschöpfen sich in der Feststellung, dass " auch eine Gesamtschau der vorgenannten Umstände… nicht dazu (führt), die Aussage der Nebenklägerin zur Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen " (28 UA).Dabei sind im Rahmen der Beweisaufnahme die folgenden Umstände festgestellt worden, die sämtlichst Zweifel an einer Täterschaft des Angeklagten hervorrufen und dessen Einlassung, nicht der Täter zu sein, stützen, während Umstände, die unabhängig von der Aussage der Nebenklägerin für eine Täterschaft des Angeklagten sprechen, nicht festgestellt wurden:- der Täter hat die arabischen Wörter schu-schu in einem bezogen auf die Tatsituation sinnvollen und angemessenen Zusammenhang verwendet. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung muss davon ausgegangen werden, dass entweder die Muttersprache des Täters Arabisch ist oder der Täter zumindest Arabisch spricht. Beides trifft auf den Angeklagten nicht zu;- der Täter war nicht in der Lage, einfache umgangssprachliche Sätze vollständig in der deutschen Sprache zu bilden und zu sprechen. Es ist jedoch als wahr unterstellt, dass der Angeklagte zumindest über diese Sprachfähigkeiten verfügt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Täter seine sprachlichen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft haben soll;- an der sichergestellten Kleidung der Nebenklägerin befinden sich keine molekulargenetischen Spuren des Angeklagten;- an der sichergestellten Kleidung der Nebenklägerin befinden sich molekulargenetische Spuren, welche Hinweise auf mögliche andere Täter geben;- der Angeklagte drängt auf die Durchführung eines DNA-Gutachtens, da er nachteilige Feststellungen nicht fürchten muss, sondern den – offensichtlich geforderten - Entlastungsbeweis führen kann; - der Zeuge Denshykov gibt an, dass der Täter dem Angeklagten ähnlich sieht, er aber eine Identität mit dem Angeklagten nicht feststellen kann;- genau eine Woche nach der vorliegenden Tat ereignet sich eine identische Tat zum Nachteil der Nadine Müller. Wie der Zeuge Denshykov beschreibt die Nadine Müller einen dem Angeklagten ähnlichen Täter. Nadine Müller erklärt aber zudem, dass Angeklagte mit Sicherheit - trotz der Ähnlichkeit - nicht der Täter ist;- der Angeklagte bestreitet die Tat. Er hat bisher ein unbescholtenes Leben geführt und verfolgt eine akademische Karriere;- der Angeklagte war überrascht und betroffen als er von seinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Kreijenbroek erfuhr, welcher Vorwurf ihm - dem Angeklagten - gemacht wird.Die Gesamtschau aller in der Hauptverhandlung festgestellten Umstände spricht gegen die Richtigkeit der Aussage der Nebenklägerin. Die Kammer unterlässt es in ihrer Beweiswürdigung darzustellen, wie sie unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände in einer Gesamtwürdigung zu einem anderen Ergebnis kommt. Das nichts als die eigene Behauptung für die Darstellung des der Nebenklägerin spricht, erwähnt die Kammer nicht. Die Beweiswürdigung ist daher in einem wesentlichen Punkt lückenhaft und nicht geeignet, begründete Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten auszuräumen.Bei der geltenden Unschuldsvermutung ist aber genau dies die Aufgabe und Pflicht des Gerichts, wenn es denn - wie vorliegend - zu einer Verurteilung kommen will.Die unvollständige Beweiswürdigung stellt einen Verstoß gegen die Grundsätze des § 261 StPO dar.